Erich Kästner zufolge heiraten Kunsthistorikerinnen nur solche Männer, die den Bamberger Reiter kennen. Das schränkte die Auswahl sicher nicht sehr ein, war diese Figur doch immer schon bekannt und wurde als Höhepunkt der Skulptur des Mittelalters weithin gerühmt. Nur die Frage, wen dieser Reiter darstelle, stand traditionell im Mittelpunkt von Spekulationen. Die gesamte europäische Fachwelt beachtet bis heute alle Veröffentlichungen zu diesem zentralen Gegenstand der kulturhistorischen Forschung.
Vor ungefähr 15 Jahren versuchte man in der Debatte einen Schlussstrich zu ziehen. Die Forschungen eines Teams unter der Ägide der Bamberger Professoren Achim Hubel und Manfred Schuller, die schon beim Regensburger Dom wichtige Erkenntnisse gewonnen hatten, schienen 2002 das Rätsel, um wen es sich beim Reiter handle, gelöst zu haben. Die Fachwelt einigte sich auf die These, der heilige Stephan von Ungarn sei in der Nähe des Fürstenportals auf einem Sockel verewigt.
Rätselhafter Reiter
Nun hat sich der durch viele Forschungsbeiträge, unter anderem in den Fächern Kunstgeschichte, Theologie und Philosophie ausgewiesene Experte und Domführer Matthias Scherbaum aufs Neue mit der Thematik auseinandergesetzt, nachdem die Diskussion doch nicht zur Ruhe gekommen war. Vor allem der gewichtige Doppelband über den Bamberger Dom, herausgegeben vom Landesamt für Denkmalpflege, griff 2015 wieder auf die Theorie zurück, es handle sich um einen der Heiligen Drei Könige. Das geschah diesmal nicht nur mit wissenschaftlicher, sondern gleichsam landesamtlicher Autorität.
Für einen unabhängig wirkenden Intellektuellen wie Scherbaum konnte allerdings auch dieses Urteil keine Entscheidung sein, gegen das man nicht Berufung einlegen könnte. Seit Jahren führt er Besucher durch das „Fränkische Rom“ und seine Kathedrale und bekommt gerade in der Letzteren immer wieder viele Fragen gestellt, die er als redlicher Wissenschaftler glaubt, nicht mit letzter Sicherheit beantworten zu können. Diese Unklarheit betrifft seiner Erfahrung nach nicht nur den Reiter, sondern auch einen Großteil der anderen Skulpturen der sogenannten Jüngeren Schule des 13. Jahrhunderts, die anscheinend mit dem französischen Reims in einer – wiederum unklaren – Wechselbeziehung standen. Dazu gehören unter anderem eine sogenannte Elisabeth, ein Engel und Motive des Bamberger Papstgrabs.
Freilich gibt es auch bei Skulpturen in anderen Kathedralen unergründliche Geheimnisse, in Bamberg aber scheint das Rätselvolle seltsam umfassend und einzigartig zu sein. „Da stimmt doch etwas nicht!“, dachte sich Scherbaum und versuchte eine Theorie zu bilden, in der speziell das Moment der Vieldeutigkeit in der Kunstinterpretation seinen Platz haben sollte.
Nach weiteren Forschungen zur Geistesgeschichte über den Anfang des 13. Jahrhunderts fand er einen etwas ungewöhnlichen, jedoch tragfähigen Lösungsansatz: Die nicht erkennbare eindeutige Interpretationsmöglichkeit war keine Fehlleistung der Künstler in ihrer Zeit, sondern bewusst programmatisch. Was schon vorher in der Malerei, beispielsweise der Buchmalerei und in der Literatur durchaus üblich war, nämlich die vielfache Interpretationsmöglichkeit etwa eines Rosensymbols zu verwenden, sei erstmals in Bamberg auch im Bereich der Skulptur zum Programm geworden.
Merkwürdigerweise, so Scherbaum, hatte sich in der Auslegung einer Skulptur ein Prinzip des Entweder-Oder etabliert. Eine Reihe von Forschern sah den Reiter beispielsweise als König der Endzeit, sammelte Argumente und schloss alle anderen Sichtweisen aus. Eine „vergessene“ eindeutige Zuordnung durch den Bildhauer wurde diesem als Fehlleistung angelastet.
Merkwürdige Seherin
Diesen vermeintlichen Mangel wollte Scherbaum angesichts der Genialität der Künstler keinesfalls gelten lassen. Weder der Reiter, noch die sogenannte Elisabeth, noch der Engel oder die heidnisch-antikisierenden Motive auf dem Papstgrab enthalten Versäumnisse, sondern sie eröffnen vielmehr neue Denkansätze, wie man es von der Kunst bis heute erwartet.
Ganz neu muss sicher die Deutung dieser geheimnisvollen und zugleich wunderschönen Frauengestalt in Angriff genommen werden, die man bisher mit Elisabeth bezeichnete, nur weil sie in der Nähe einer Marienfigur steht. Aber passt sie überhaupt an diese Stelle? Blickt diese Seherin nicht – mit ihren magischen Augen und ihren merkwürdigerweise männlich-harten Gesichtszügen – eher ins Jenseits als auf eine Marienfigur? Und was bedeuten die merkwürdigen Beschädigungen und Risse im Stein, die seit der Purifizierung, dem Abwaschen der Farben, immer deutlicher zutage treten?
Nach den neuesten Forschungen muss die Figur schon in der Werkstatt gestürzt oder umgestürzt worden sein und war daraufhin in mehr als 15 Einzelteile zerbrochen, die dann mit Baumharz zusammengeklebt beziehungsweise mit Bleidübeln zusammengesteckt wurden. Aber was war passiert? Gab es vielleicht Auseinandersetzungen wegen der einzigartigen Darstellung einer „Alten Frau“, wie man sie in der Forschung inzwischen auch bezeichnet? Die Jüngere Schule scheint jedenfalls plötzlich abgezogen zu sein, ohne zum Beispiel die Sockel – wie den des Reiters – sorgfältiger auszuarbeiten.
Haben es diese Bildhauer bei vielen Skulpturen bewusst auf Provokationen angelegt, wie Matthias Scherbaum vermutet? Seiner Meinung nach spricht einiges dafür: zum Beispiel das außergewöhnlich unverschämte Lachen der Verdammten am Fürstenportal, die zum Betrachter hin herausgestreckte Zunge des Teufels am selben Ort, eine barbusige Kämpferin am Papstgrab und die Aktdarstellungen an der Adamspforte, die ersten lebensgroßen Aktfiguren des deutschen Mittelalters beziehungsweise seit der Antike. Ziemlich übel wirkt auch das halb wahnsinnige Lachen der Verdammten am Fürstenportal durch diesen nackten Teufel, dessen Kette unter anderem ein gekröntes Haupt umschlingt. „Saß den Künstlern gar der Schalk im Nacken?“, fragt sich Scherbaum mit einem Lächeln.
Auf keinen Fall ist eine eindeutige Lösung möglich. Matthias Scherbaum wird seinen Ansatz weiter begründen und der Öffentlichkeit zur Diskussion stellen. (Andreas Reuss)
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