Ein erbauliches Poesiealbum ist das nicht, auch wenn es „Ihrer Königlichen Hoheit Frau Herzogin Carl Theodor in dankbarster Verehrung“ zum Geburtstag verehrt wurde: Die Einbanddeckel mit der goldgeprägten Widmung und dem Herzogswappen umschließen Seiten voller Bilder von zertrümmerten Knochen, steckengebliebener Munition, von Stadien nur allmählicher Wundheilung. Es sind Röntgenaufnahmen von Verletzten des Ersten Weltkriegs. Rechts die Aufnahme – links der verwaltungsmäßig spröde Dokumentationstext des Krankenblatts, für die Herzogin vom jeweiligen Patienten persönlich unterschrieben.
Fotoalben zu verschenken war einst gängiger Brauch der bürgerlichen Erinnerungskultur. Natürlich erinnerte man an etwas Schönes, Positives – aber wer verschenkt eine „hübsch verpackte“ Dokumentation grausamer Kriegsverstümmelungen?
Röntgentechnik, Krieg, Klinik, Königshaus: „Es ist ein befremdliches Hybridobjekt“, sagt Marion Maria Ruisinger über den 8,2 Kilogramm schweren Band, der heute im Medizinhistorischen Museum Ingolstadt zu finden ist. Ihn hat die Museumsleiterin nun in den Mittelpunkt einer Ausstellung gerückt: Spurensuche heißt sie.
Eine Menge Fragen stellen sich bei diesem Exponat, die Antworten gibt die Ausstellung wohldosiert gewichtend. Natürlich geht es auch um die prominente Beschenkte – aber nur um notwendige Erklärungen im Zusammenhang mit dem Album. Eigentlich fragt die Ausstellung nämlich nach den Menschen, von denen nur „seelenlose“ Schattenbilder eingeklebt sind: Es geht dabei um die medizinische ebenso wie um die biografische Spurensuche.
Zerschossenes Gesicht
Da wäre zum Beispiel Robert Scherer, lediger Laborant in einer Fabrik: 1913 – er ist 20 Jahre alt – wird er Rekrut im 23. Bayerischen Infanterieregiment. „Eifrig“ und „sehr gut“ lauten seine Beurteilungen. Er zieht gleich im August 1914 auf die Schlachtfelder in Lothringen. Nach nicht einmal drei Wochen trifft ihn ein Granatsplitter am Unterarm. Erst ein Reserverlazarett am Oberrhein, dann das Vereinslazarett Carl Theodor in München: Dort wird sein Arm geröntgt. Das Bild zeigt einen Splitterbruch der Elle und ausgedehnte Weichteilverletzungen – welche Schmerzen das bedeutete, das muss man in die Bilder hineininterpretieren.
Man kann sich aber vorstellen, dass es Franz Matz, der zur gleichen Zeit in dem Münchner Lazarett behandelt wurde, noch weitaus dreckiger ging: Den 32-jährigen verheirateten Passauer erwischte es am 2. September „bei Drei Aehren“: Schrapnellkugeln trafen nicht nur seinen Ellenbogen, sondern auch sein rechtes Auge und seinen Kiefer. Stahlhelme gehörten erst ab 1916 zur Ausrüstung. Ob ihn seine drei Kinder überhaupt wiedererkannt haben?
Nach seiner Entlassung wurde er einem Ersatzbataillon zugewiesen – pro forma. Er blieb in ambulanter Behandlung, ein Jahr später wurde er als dauernd feld- und garnisonsunfähig eingestuft. Seine monatliche Rente betrug 75,75 Mark pro Monat. Einer von ungefähr einer halben Million Kriegsversehrten im Deutschen Reich – staatlich anerkannten, wohl gemerkt. Denn die vielen „Kriegshysteriker“ und „Kriegszitterer“, wurden sehr oft als Simulanten oder „Rentenjäger“ abgekanzelt.
Anders als der „Kriegskrüppel“ Franz Matz kehrte Robert Scherer im Mai 1915 zurück ins Feld, zum Gefreiten befördert. Am 4. Juli um 16 Uhr traf ihn ein Geschoss in die Brust. Er ist in einem Massengrab beerdigt: Einer von etwa zwei Millionen deutschen Soldaten, weltweit sind 10 Millionen gefallen.
Das alles steht natürlich nicht mehr im Album: Im Medizinhistorischen Museum hat man die Spurensuche erweitert, weitere Quellen durchforstet. Vor allem die „Kriegsstammrollen“ der bayerischen Armee waren ergiebig. Und dann gab es noch Auskünfte von Privatpersonen.
Exemplarisch für die insgesamt 81 medizinischen Fälle im Album werden acht der ehemaligen Patienten aus der Anonymität des „medizinischen Materials“, herausgeholt – sie erhalten regelrecht wieder ein Gesicht.
Damit sich auch die beschenkte Herzogin Carl Theodor an die Menschen und nicht nur an ihreGebeine erinnert, ist im Album ein Gruppenfoto eingeklebt: Es zeigt die ersten Kriegspatienten der Klinik mit ihrem Pflegepersonal.
Engagierte Infantin
Die Herzogin hieß eigentlich Marie José bzw. Maria Josepha und war 1857 im Taubertal als Tochter des portugiesischen Exilkönigs Miguel de Braganza geboren worden; als sie 17 Jahre alt war, heiratete sie den verwitweten Carl Theodor. Dieser stammte aus der Wittelsbacher Linie „in“ Bayern, war ein Sohn des legendären Herzog Max (respektive „Zithermaxl“) und damit ein Bruder von „Sisi“. Untypisch für seine Zeit war er Augenarzt geworden, und zwar ein unermüdlich arbeitender. Seine junge Frau Maria Josepha unterstützte ihn beruflich, vor allem auch bei der Gründung einer Klinik als „Wohltätigkeitsanstalt für unbemittelte Augenkranke“. Die Münchner Augenklinik besteht seit 1895, seit 1917 als Stiftung.
Die Herzogin arbeitete in der Klinik selbst mit; als ihr 18 Jahre älterer Gatte 1909 starb, leitete sie das Haus gemeinsam mit dem Chefarzt Heinrich Zenker. Im Album sieht man Fotos von ihr in Schwesterntracht. Und beim betrachten von Röntgenbildern: Das Bedienen der Röntgenapparate und die Bildentwicklung war vor allem in Kriegszeiten Sache von Frauen, von Laborantinnen mit „gründlicher röntgen-fachwissenschaftlicher Vorbildung“. Das hebt die Herzogin natürlich vom normalen Pflegepersonal ab. Außerdem war sie ja die Klinikbesitzerin. Und das eben nicht nur auf dem Papier – die enge Verbundenheit zu „ihren“ Patienten und zum Klinikpersonal drückt sich eben in dem Album mit den Röntgenaufnahmen und einem weiteren Album mit allgemeinen Bildern der Klinik aus den ersten beiden Kriegsjahren. Diesen Bildband bekam sie in gleicher Aufmachung wie ihr Geburtstagsgeschenk als Weihnachtsgabe 1916 überreicht. Dieser Band befindet sich in der Augenklink (1993 auf einer Auktion gekauft) die Ausstellung führt beide Bände erstmals wieder zusammen.
Mit der Mobilmachung im Sommer 1914 war die Augenklinik in eines von vielen (zivilen) Vereinslazaretten umfunktioniert worden, und zwar ausgestattet mit der damals modernsten Technik: einem Röntgenapparat. Ob die Anlage jedoch der Klinik selbst gehörte (was eher unwahrscheinlich ist, weil sie in der Augendiagnostik überflüssig war), ob sie geliehen oder vom Kriegsministerium bereitgestellt wurde, lässt sich nicht mehr feststellen.
Die Röntgendiagnostik war noch eine junge Disziplin – das erste Röntgenbild stammt von 1896. Der Blick in den Körper ermöglichte den viel exakteren Befund und die zielgerichtete Therapie. Gerade im Ersten Weltkrieg wurde das wichtig: Die neuen „Hightech“-Waffen mit ihren Explosivgeschossen verursachten Verletzungen mit Folgeschäden, die den Ärzten noch unbekannt waren.
Wer es mit seinen Verletzungen überhaupt bis ins Feldlazarett oder gar zur medizinischen Weiterversorgung bis in die Heimat schaffte, hatte oft zertrümmerte Gliedmaßen, Granatsplitter und Schrapnellteile im Körper – und das oft in großer Menge und gar noch an versteckte Stellen gewandert. Nur tasten oder auf Verdacht aufschneiden: Da wären die Ärzte (und natürlich die Patienten) überfordert gewesen. Der „strahlende Durchblick“ erlaubte bei dieser Spurensuche im Soldatenkörper dagegen die genaue Lokalisierung und gar die Bestimmung, um welche Fremdkörper es sich handelte.
Langfristige Planung
Im Album der Herzogin sind vor allem Aufnahmen von Hand- und Fuß- bzw. Beinverletzungen, auch eine brutale Kopfverletzung gesammelt – allesamt aber „nicht so schwer“: Immerhin waren diese Soldaten ja noch transportfähig gewesen. Viele ihrer Kameraden sind in der Schlacht regelrecht zerfetzt worden, starben an Tetanus oder Gasbrand.
Geröntgt wurde auch an der Front: Das Bayerische Kriegsministerium hatte schon im Dezember 1909 einen Feldröntgenwagen geordert. Auch die Sanitätsämter hatten bei Herstellerfirmen nachgefragt, wie schnell denn entsprechende Apparate im Fall der Mobilmachung geliefert werden könnten. Das war schon Ende 1910. Auch solche Hinweise zur sich anbahnenden Kriegspolitik fördert die Ausstellung bei ihrer Spurensuche zutage. (
Karin Dütsch)
Bis 28. September. Deutsches Medizinhistorisches Museum, Anatomiestraße 18 – 20, 85049 Ingolstadt. Di. bis So.10 – 17 Uhr.
www.dmm-ingolstadt.de
Abbildung (Foto: Medizinhistorisches Museum Ingolstadt/Kowalski)
Primäres Ziel der medizinischen Versorgung war es, die Verwundeten möglichst schnell wieder wehrtauglich, andernfalls fürs Arbeitsleben fit zu machen. Letztendlich aus dem Kriegsdienst entlassen wurde Ludwig Bergmann, von dessen Unterschenkel dieses Röntgenbild gemacht wurde: Ein Geschoss zertrümmerte das Wadenbein und glitt zwischen Gewebeschichten bis zur Ferse hinunter. Der Bäcker muste sich zeitlebens mit einer Gehbehinderung und lähmenden Nervenschädigung abfinden.
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