Geduldiges Warten in der langen Schlange vor der Studentenkanzlei (natürlich auf den letzten Drücker), dann ein paar Klicks am PC – und wenn auch noch der Obolus überwiesen ist, darf man sich als ordentlicher Student der Ludwig-Maximilians-Universtiät München (LMU) fühlen. Ein Matrikelbuch haben heutige Studenten noch nie gesehen – geschweige denn, dass sie darauf geschworen hätten. Nein, statt eines Eides ist die korrekte und rechtzeitige Überweisung des Studienbeitrags entscheidend. Und wer beim Schwarzfahren im MVV erwischt wird, weil er sich die „IsarCard Semester“ nicht rechtzeitig organisiert hat, muss auch nicht vor Uni-Präsident Bernd Huber stramm stehen, der einen vielleicht zu ein paar Tagen Karzer verurteilt.
Studieren an der LMU: Man stelle sich vor, ein Studenten-Ahnherr der vor bald 550 Jahren in Ingolstadt gegründeten Hochschule stünde per Zeitsprung heute in der Aula am Geschwister-Scholl-Platz oder mitten im Campus Martinsried-Großhadern. Nix wie weg!, würde er sich in dem Gewusel vermutlich wünschen: Eine Zigtausende Kommilitonen zählende akademische Gemeinschaft ist das geworden, was zu seiner Zeit anno 1472 mit einer Handvoll Kollegen und Professoren begann.
Chronik in acht Bänden
Von der herzoglichen Gründung in besserer Klassenzimmerstärke und im überschaubaren Ingolstädter Pfründnerhaus zum weitverzweigten Campus-Massenbetrieb in München und seinen Vororten: Eine klassische Chronik, die allen Aspekten dieser langen und ereignisreichen Zeitspanne gerecht würde und die sich obendrein nicht in ermüdendem Auflisten von Details entlang der Zeitleiste ergehen würde, könnte man gar nicht bewerkstelligen, meint Claudius Stein. Er ist einer, der am besten Einblick in die Geschichte der LMU hat: Er arbeitet im Universitätsarchiv.
Und das hat sich fürs Jubiläum 2022, das groß gefeiert werden soll, einen Kniff ausgedacht: Die Geschichte der LMU wird in acht die Jahrhunderte überspannenden Schlüsselthemen erzählt. Dazu finden seit 2015 jährlich Tagungen mit Experten aller möglichen wissenschaftlichen Richtungen statt, ihre Beiträge erscheinen als Tagungsbände, die in die Jubiläumspublikation einfließen sollen.
Es geht dabei zum Beispiel um Finanzierungsfragen, auch um das städtebauliche und architektonische Miteinander von Universitätsgebäuden bzw. Hightech-Campus und städtischer Umgebung. Jüngst stand auf dem Tagungsprogramm quasi das Herzstück der Universität, das fürs Selbstbewusstsein als elitäre Bildungseinrichtung jahrhundertelang zentrale Bedeutung hatte – so wie es heute vielleicht das Privileg „Exzellenzuniversität“ und der Verweis auf die Riege der aus der LMU hervorgegangenen Nobelpreisträger sein mögen: Es ging um die Insignien. Sie schlummern inzwischen allenfalls im Unterbewusstsein, sind in Vergessenheit geraten.
Insignien wiederbeleben?
Man kann sich die Verblüffung oder vermutlich Häme heutiger Studierender vorstellen, würde dem Uni-Präsidenten auf seinem Weg zum Rednerpult ein riesiges goldenes Szepter würdevoll vorangetragen werden! Solche Rituale, auch das Tragen der goldenen Amtskette, sind spätestens seit der 68er-Revolte obsolet geworden. „Und aus konservatorischen Gründen verbietet es sich ohnehin, das Szepter so zur Schau zu tragen“, sagt Claudius Stein. Es ruht im Tresor des Uniarchivs – gut geschützt, allerdings ereilte es auch das Schicksal „aus den Augen, aus dem Sinn.“
Sollte und könnte man die Insignien nicht wieder sichtbar machen? Wenn auch nicht eine Wiederbelebung ihrer Funktionalität möglich ist: Vielleicht wäre ihre Präsentation in einer Art öffentlich zugänglichen Schatzkammer oder gar einem Universitätsmuseum sinnvoll? Könnte ein solchermaßener „Rückruf“ ins Bewusstsein die Identifikation der LMU-Gemeinschaft auch heute noch bestärken? Wenn Studierende bereits auf ihren Immatrikulationsdokumenten, ja schon beim Informationsklick auf die Website der LMU den Uni-Stempel mit Muttergottes mit Jesuskind sehen: Sollten sie nicht erfahren, was es damit auf sich hat? Auch mit solchen Aspekten beschäftigten sich die Experten bei der jüngsten Studientagung.
Wie Reichskleinodien
Sie sind einer jeden alten Universität so etwas wie die sorgsam gehüteten Reichskleinodien: Insignien zeugen von Macht. Signifikantestes Kultobjekt ist das Szepter, das Symbol schlechthin für Würde und Herrschaftsausübung. Auch Uni-Rektoren, meistens auch die Dekane, hatten welche. Stolz wurden sie bei internen und öffentlichen Veranstaltungen mitgeführt.
Wenn auch nicht vergleichbar zur Schau gestellt, waren die Siegel nicht minder wichtig als das Szepter, ebenso das Matrikelbuch. Das ist quasi der Kern des Insignienschatzes.
Um welche Macht ging es? Primär signalisierten diese Insignien, dass der Landesherr eigene Rechte abtrat und sie den Insignienträgern übertragen hatte. Konkret, stark zusammengefasst: Der Landesherr erkannte die Universität als eigenständige, rechtsfähige Gemeinschaft an.
Diese durfte nicht nur selbst bestimmen, was gelehrt wird und wer promovieren darf. Auch die innere Organisation und die Rektoratswahl waren eigene Sache. Der Rektor hatte als „Gelehrtenfürst“ sogar Polizei- und Richterfunktion in quasi strafrechtlichen Angelegenheiten.
Wenn Studenten sich ungebührlich benahmen, als torkelnde Unruhestifter aufgegriffen wurden, dann landeten sie im Rektorat vor dem Kadi und erhielten dort ihre Strafe. Nur bei Kapitalverbrechen behielt sich der Landesherr das Gerichtsverfahren und die Aburteilung vor.
Aufmüpfige Studenten
Der Landesherr gestand den Studenten akademische „Bürgerrechte“ zu, befreite sie von Maut- und Zollgebühren bei An- und Abreise zum Studienort.
Symbolisierten das Szepter und die Siegel diese Rechtsfähigkeit nach außen, so tat dies das Matrikelbuch nach innen: Der Eid auf dieses handgeschriebene Verzeichnis mit seinem Schwurblatt und die Unterschrift bedeuteten sozusagen die Einverständniserklärung der Studenten, sich den Rechten und Pflichten dieser akademischen Korporation zu unterwerfen.
Waren die Studenten in Ingolstadt und später München vielleicht von jeher aufmüpfig und musste man ihnen deshalb mit einem weiteren Symbol augenfällig machen, was ihnen drohte? Jedenfalls ist eine antikisierende Hellebarde im universitären Insignienschatz recht eigentümlich. Übermannshoch mit beilähnlicher Eisenspitze, baumeln an ihr drei verschiedene Geißeln herab – „Wehe!“, hieß das. „Malträtiert wurde damit natürlich niemand“, lacht Claudius Stein. Auch wenn solche eindeutigen Gebrauchsspuren fehlen: „Wie die Hellebarde, die aus der Zeit um 1750 stammt, genau verwendet wurde, weiß man bislang nicht.“
Hatte sie schon Vorgänger? Die Polizeigewalt hatte Herzog Ludwig IX. der Hochschule ja schon in der Gründungsurkunde 1472 bestätigt. Wahrscheinlicher ist aber, dass man sich erst im schauverliebten Barock dieses makabre Herrschaftszeichen zulegte. Über die lange Zeit hinweg hat die Hellebarde den Charakter einer Insignie erhalten – wie auch andere Objekte, die streng genommen nichts mit der originären Insignientrias zu tun haben.
Wer wann was studierte
Älteste Insignie ist das erste Matrikelbuch von 1472. Nach dem Schwurblatt, das die Kreuzigungsgruppe zeigt, folgt das Stifterblatt. Dessen Motiv, die unter einem gotischen Baldachin thronende Muttergottes mit Jesuskind, ist (nach Unterbrechungen in der Ära Montgelas und im Nationalsozialismus) auch heute noch Siegelzier der Gesamt-LMU, die einzelnen Fakultäten führen zum Teil andere Motive.
Matrikelbücher wurden bis 1914 geführt, dann kam die Umstellung auf Karteikarten und ab Mitte der 1970er Jahre auf EDV. Der individuelle Schwur aufs Matrikelbuch wurde im 19. Jahrhundert abgelöst von einem eher symbolischen Akt, bei dem nur noch ein Student seine Fakultätskommilitonen vertrat. 1967 war auch mit diesem Ritual Schluss.
Ebenfalls von 1472 stammt das älteste Siegel der rund 200 Typare umfassenden Sammlung im Uniarchiv. In dieser sieht man auch Beispiele für den „Vandalismus“ unter Montgelas: Dieser meinte, die Universität dürfe sich keine Extrawurst erlauben und es wurden Staatswappen eingeführt. Die Typare mussten zersägt werden. Wohlweislich sägte man nicht zu tief: Wenige Jahre später erklärte König Ludwig I. die Verordnung des reform-eifrigen Staatsbeamten für nichtig, und die Sägespalten in den Stempeln wurden wieder feinsäuberlich verfüllt. Beispiele sieht man auch für die Hakenkreuzmotive, die im Nationalsozialismus den Bezug zur Muttergottes aus den Siegeln verdrängten.
War es nur ein schön gedrechseltes Stück Holz, oder war schon der erste Amtsstab, den der Rektor laut Stiftungsurkunde führen durfte, aus Edelmetall? Man weiß nichts darüber – eines der beiden erhaltenen silber- und goldverzierten 120 Zentimeter langen Szepter datiert von 1642 und ist auch nicht jenes des Rektors, sondern der Artistenfakultät. Es stammt aus der Werkstatt des Ingolstädter Goldschmieds Michael Freytag, der auch das undatierte, aber zeitgleich entstandene Szepter der oberen Fakultäten (Theologie, Medizin, Jurisprudenz) geschaffen hat. Dieses Szepter diente gleichzeitig der Gesamtuniversität. In beiden Szepterköpfen überthront die Muttergottes mit Kind die jeweiligen Fakultätspatrone.
Quasi Insigniencharakter haben die „archae“ erhalten: Das sind eher schlichte, aber massive Holzkisten, in denen einst Insignien ebenso wie Statuten, vielleicht auch Banner und vor allem die Kasse aufbewahrt und beim Dekanatswechsel offiziell übergeben wurden. Das Uniarchiv hat drei solcher alten Holztruhen aus dem 16. und 17. Jahrhundert.
Ebenfalls später kam ein wahres kunsthistorisches Schmuckstück zum Insignienschatz hinzu: ein Trinkpokal in Form eines Schiffes – eine Silber- und Goldschmiedearbeit des Augsburgers Caspar Hentz. Nicht er, sondern ein hochprominenter Student war der Schenker: Erzherzog Ferdinand von Österreich, der später Kaiser werden sollte. Er hatte von 1590 bis 1595 in Ingolstadt studiert – sein Großvater mütterlicherseits war Albrecht V., Herzog von Bayern. Als Stiftungsjahr ist auf einem Wimpel am Mast 1594 zu lesen. Fertig war der Pokal damals wohl nicht: Der Kaiser ließ ihn später aus Graz nach Ingolstadt schicken – „in sui memoriam“, dass man an ihn denke.
Pokal fürs Gelage
Ob das auch augenzwinkernd gemeint war? Auf dem Schiff sind kleine lebendige Genreszenen dargestellt, das fröhliche Saufgelage am Heck springt einem förmlich in die Augen. War Ferdinand auch einer jener trinkfreudigen Studenten, über die man ein ganz eigenes, die Jahrhunderte übergreifendes Kapitel Uni-Chronik schreiben könnte? Freilich war er erst zwölf Jahre alt, als er nach Ingolstadt kam. Aber vielleicht hat er manches Gelage der älteren Jahrgänge beobachtet? Viel Gaudi hat es zweifelsohne gegeben, wenn jemand versuchte, Wein aus dem Pokal zu trinken: Es fehlt das sonst übliche Trinkröhrchen – mit Ruhm überschüttet wurde vielleicht, wer sich nicht mit dem Rebensaft übergoss.
Allenfalls genippt wurde aus dem Kelch von 1720 mit Medaillonbildnissen der Fakultätspatrone, der heute ebenfalls dem Insignienschatz zugerechnet wird. Er kam einst bei Universitätsgottesdiensten zum Einsatz. Es gab wohl mehrere ähnliche Kelche, vermutet Claudius Stein. Doch auch in diesem Punkt war Montgelas unerbittlich: Das liturgische Gerät musste für Kriegskontributionen eingeschmolzen werden.
Man könnte spekulieren: Besteht die goldene Rektorenkette von 1826 aus eingeschmolzenen Kelchen? Die Kette musste sich die Uni nämlich auf königliches Geheiß hin zulegen – und auch selbst zahlen. Tatsächlich freilich musste das eingeschmolzene Edelmetall der liturgischen Objekte an Montgelas bzw. für Kriegskontributionen abgegeben werden.
Freilich nicht nur des materiellen Wertes wegen ist die Kette den Hütern des Insignienschatzes heute lieb und teuer: Sie wurde bis in jüngere Zeit bei vielen Anlässen von den Rektoren sichtbar getragen.
Ein „echtes“ Geschenk vom Landesherrn ist dagegen ein weiteres Prunkgefäß, allerdings in normaler Pokalform, das König Maximilian II. 1858 der Universität machte. Genau zehn Jahre zuvor hatte seine Mutter, Königin Therese, die Hochschule bedacht: mit einer selbstgestickten Fahne. Das war eine emotional hoch aufgeladene Gabe: Im Revolutionsjahr 1848 spielte natürlich Kalkül mit. Es knirschte und krachte gewaltig zwischen Universität und Landesherrn – vielleicht sollte das edle Geschenk ein wenig besänftigen, gleichermaßen an die Treue zum Herrscherhaus gemahnen?
Kuriose Fahne
Kurios: Das bayerische Rautenwappen ist mitten auf die Deutschlandfahne appliziert – deren Farbabfolge ist aber falsch. Schwarz – Gold – Rot: „Vielleicht war das korrekte Aussehen damals noch nicht so geläufig, zumindest in Bayern?“, überlegt Claudius Stein. Der Archivar begeistert sich: „Aufgrund der prominenten Schenkerin ist die Fahne ein wunderbares Exponat, das man getrost zu den Insignien rechnen darf. Noch dazu, weil es ja kein Symbol der Universitätsverwaltung ist, sondern direkt aus der Studentenschaft stammt.“
Sie sieht heute leidlich zerfleddert aus. Das zeugt aber nicht vom eifrigen Schwenken der Studenten anno dazumal: Vielmehr war sie ebenso wie all die anderen Uni-Insignien im Zweiten Weltkrieg in Sicherheit gebracht worden. Sie und die Hellebarde landeten in der Residenz München. Man hat beide Stücke aus den Augen verloren bzw. vergessen, sie zurückzuholen. Das geschah erst jetzt im Rahmen der Recherchen zum Jubiläumsjahr.
Und noch etwas hat spätestens die jüngste Studientagung der Vergessenheit entrissen: die Idee, all die Insignien und anderen dinglichen Schätze aus der Geschichte der LMU in einem Museum, zumindest in einer Art zugänglichen Schatzkammer, zu präsentieren. Schon vor über 100 Jahren wurde recht konkret an einem solchen Projekt gearbeitet – selbst die entsprechende Objektliste dazu gibt es noch.
Vielleicht wäre ein LMU-Museum zumindest virtuell möglich? Ein Anfang dazu ist nämlich schon gemacht: Als „Stück des Monats“ stellt das Uniarchiv seit 2009 besonders interessante Objekte auf seiner Internetseite vor. (
Karin Dütsch)
Information:
www.universitaetsarchiv.uni-muenchen.de
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