Er hatte den richtigen Verdacht: Die Täter der Mordserie stammen aus der Neonazi-Szene, glaubte der Münchner Ermittler Klaus Mähler, bis 2007 stellvertretender Leiter der Soko Bosporus. Doch die wichtigsten Informationen wurden ihm vorenthalten. Er fragt sich bis heute, warum.
An einem Freitag im November kehrte das seltsame Gefühl zurück ins Leben von Klaus Mähler, er nennt es „das Unbehagen“. Der pensionierte Polizeihauptkommissar spazierte gerade mit seiner Frau durch das oberbayerische Städtchen Murnau, als sein Telefon läutete. „Hast du’s schon gehört?“ Der frühere Leiter der Münchner Mordkommission war dran. „Bosporus ist gelöst. Mach dein Radio an.“ Bosporus war der Name der Sonderkommission, die die Mordserie an acht türkischen und einem griechischen Geschäftsmann, die man damals noch ahnungslos Dönermorde nannte, aufklären sollte. Klaus Mähler war von der Gründung im Sommer 2005 bis zum Sommer 2007 deren Vizechef.
Mähler rannte zum Auto und schaltete das Radio ein. Eine Sprecherin erklärte gerade in nüchternem Ton, man hätte die Tatwaffe, mit der die Dönermorde verübt worden waren, gefunden – die Waffe nach der der heute 62-Jährige so lange gesucht hatte.
Mit den richtigen Infos wäre der Fall zu lösen gewesen
Zunächst war Mähler erleichtert, als er die Nachricht hörte. Doch das blieb nicht lange so. Denn er begriff bald, dass er den Fall damals hätte lösen können – wenn er die richtigen Informationen gehabt hätte. Seitdem fragt er sich: „Wieso hatten wir diese Informationen nicht?“
Mähler stellt die Frage jetzt laut, in einem Café in der Münchner Innenstadt, dabei presst er die Handflächen gegen seine Schläfen. „Da gibt es zum Beispiel dieses Lied einer Neonazi-Band, in dem die Morde gefeiert werden“, sagt er´ fassungslos. „Der Verfassungsschutz hätte so etwas doch wissen müssen.“ Das Lied heißt Dönerkiller. Die Band Gigi und die braunen Stadtmusikanten, in rechtsextremen Kreisen sehr bekannt, singt darin von den neun Morden als zusammenhängende, ausländerfeindliche Taten – und macht sich darüber lustig, dass die Polizei nicht weiter kommt: „Neun mal hat er es jetzt schon getan“, die Ermittler „drehen durch, weil man ihn nicht findet. Er kommt, er tötet und verschwindet“.
Entstanden ist das Lied erst 2010, da war Mähler schon in Pension. Aber schon als er die Ermittlungen zu der Mordserie im Juni 2005 übernahm, gab es Hinweise auf die Täter. Weniger konkrete zwar als in dem Lied, aber Hinweise. Zum Beispiel wusste der thüringische Verfassungsschutz, dass die gewalttätigen Neonazis Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe in Sachsen untergetaucht waren, dass sie Waffen besaßen und Überfälle planten.
Doch die Ermittler der Soko Bosporus erfuhren davon nichts, als sie im Frühjahr 2006 begannen, den Täter im rechtsextremen Milieu zu suchen – obwohl alle Verfassungsschutzämter in die Ermittlungen eingeweiht waren.
„Ich kann nicht glauben, dass irgendjemand diese Informationen bewusst verschwiegen hat.“ Mähler hält jetzt die Hände vor seine Augen. „Wenn die Ermittlungen zu dem Ergebnis kommen, dann wäre ich…“ Er sucht nach dem richtigen Wort. „…erschüttert“, sagt er schließlich. Nachdem er zwei Jahre in der Soko ohne Erfolg nach den Mördern gesucht hatte, erkrankte Mähler an Krebs und war sicher: Die Mordserie ist schuld. Im letzten Jahr in der Soko hatte ihn die Tatsache, dass er die neun Morde nicht aufklären konnte, gequält, das Unbehagen, das jetzt wieder da ist, hatte ihn fast jeden Tag begleitet.
Im Juni 2005 wurde Klaus Mähler stellvertretender Leiter der neu gegründeten Soko Bosporus. Die Polizei stand unter großem Druck, die Mordserie an den Migranten aufzuklären. Schon sieben Menschen waren damals mit derselben Pistole getötet worden, mit einer Ceska, Typ 83, Kaliber 7,65 mm Browning, fünf von ihnen in Bayern. Zuletzt Ismail Yasar, Dönerbudenbesitzer, am 9. Juni in Nürnberg, und Theodoros Boulgarides, Mitinhaber eines Schlüsseldienstes, am 15. Juni in München.
Als Mähler den Fall übernahm gab es keine heiße Spur, nur die Hypothese eines Münchner Profilers. Der Täter sollte demnach im Drogenmilieu zu finden sein oder mit Schutzgelderpressungen zu tun haben. Wegen dieser These kam Mähler in die Soko. Er war Dezernatsleiter für Organisierte Kriminalität in München.
„Wir haben damals wirklich alles getan, was man hätte tun können“, sagt er und umklammert jetzt die Zuckerdose auf dem Tisch, versucht ein Lächeln. Bei der ersten Lagebesprechung der Soko sagte Mähler zu den rund 50 Ermittlern: „Wenn einer von euch nachts aufwacht und eine Idee hat, wie es weitergehen könnte, dann kommt zu uns. Niemand wird dann sagen: „Was soll der Schmarrn?“ Ein ungewöhnliches Vorgehen für Polizisten, die es gewohnt sind, Fälle mit viel Routine zu lösen.
Die Soko rollte alle sieben bis dahin verübten Morde neu auf. Ermittler aus München untersuchten die Taten, die in Nürnberg begangen worden waren, und andersherum. Die Morde wurden bei Aktenzeichen XY ungelöst gezeigt. Es gab eine Sonderausgabe des Bundeskriminalblatts über die Mordserie, die alle Polizisten in Deutschland bekamen, alle Innenpolitiker und alle Verfassungsschutzämter.
Mähler besuchte die Tatorte, rekonstruierte die Taten, ging jedem Hinweis nach. Drei Mal fuhr er deshalb nach Holland. Ein Kollege besuchte die Herkunftsorte der Opfer in der Türkei und in Griechenland. Vielleicht gab es Verbindungen aus der Zeit, als sie noch nicht in Deutschland lebten? Die Ermittler suchten nach einem Motiv, das allen Morden gemeinsam sein könnte – und fanden keines.
Ein Profiler vermutete die Täter in der rechten Szene
Im März 2006 war Mähler, der 20 Jahre lang im Dezernat Organisierte Kriminalität gearbeitet hatte, sicher: Mit organisierter Kriminalität hatten die Morde nichts zu tun. Die Stimmung in der Soko war schlecht, die Ermittler waren frustriert, nach einem halben Jahr nicht weitergekommen zu sein. In dieser Situation beauftragte Mähler ein zweites Mal einen Profiler, um den Fall zu analysieren. Das Ergebnis: Die Täter kamen aus der rechtsextremen Szene.
Der Profiler gab den Ermittlern auch ein Dossier über den schwedischen Mörder John Ausonius. Zwischen August 1991 und Januar 1992 hatte der Mann elf Migranten in Stockholm angeschossen und einen von ihnen getötet. Sein Motiv: Ausländerhass. Die Analyse bestätigte die Ahnungen von Mähler. Die Stimmung in der Soko besserte sich, es gab wieder etwas zu tun. Doch lange sollte das nicht anhalten. Mähler beauftragte das bayerische Verfassungsschutzamt, alle Ämter um Hinweise zur Mordserie zu bitten. Das Ergebnis: Nichts.
„Es ist unglaublich, dass damals aus Thüringen keine Hinweise auf das Neonazi-Trio kamen“, sagt Mähler. „Schließlich passten sie perfekt zu unserer damaligen Ermittlungsthese, ein Ausländerhasser müsste der Täter sein.“ Kurz nachdem auch die neuen Ermittlungsansätze ins Leere gelaufen waren, passierten zwei weitere Morde. Am 4. April wurde der Kioskbesitzer Mehmet Kubasik in Dortmund getötet, zwei Tage später Halit Yozgat, Betreiber eines Internetcafés in Kassel.
Wieder hinterließen die Täter keine Spuren. Wieder gab es keine neuen Hinweise. Mähler gab deshalb im Sommer 2006 eine dritte Fallanalyse in Auftrag. Um auszuschließen, dass die Profiler von der Politik oder von der Polizei beeinflusst werden, wurde ein Team aus Baden-Württemberg beauftragt, aus einem Bundesland ohne Tatort also. Das Ergebnis: Die Täter könnten aus der organisierten Kriminalität kommen und einen rechtsradikalen Hintergrund haben.
Während Mähler seinen Kollegen diese dritte Analyse vorstellte, sah er die Enttäuschung in den Gesichtern. Die neue These brachte die Soko nicht weiter, bot keine neuen Ermittlungsansätze.
Warum kamen aus Thüringen keine Hinweise?
Er wusste jetzt selbst nicht mehr, wie es weitergehen sollte. Zwei Mal hatten sie alle Mordfälle untersucht, es gab drei Fallanalysen, aus der Bevölkerung kamen keine neuen Hinweise. Die einzige Spur war die Waffe. Vom Hersteller hatten die Ermittler eine Liste mit den Seriennummern aller Ceskas des betreffenden Typs erhalten und versuchten, den Weg jeder einzelnen Waffe zu rekonstruieren, sehr oft erfolglos. „Jeden Tag war es von da an schwieriger, ins Büro zu gehen“, sagt Mähler. „Irgendwann war uns allen klar: Entweder wir finden die Täter per Zufall, weil wir bei einer Kontrolle auf die Waffe stoßen. Oder sie hinterlassen bei der nächsten Tat eine Spur. Eine andere Chance hatten wir nicht mehr.“ Ein ganzes Jahr ging er noch ins Büro, bis er im Sommer 2007 krank wurde. Doch auch danach ließ ihn Bosporus nicht los, das Unbehagen blieb. Immer wieder fragte er die Kollegen, die weiter in der Soko arbeiteten, ob es etwas Neues gebe. Immer war die Antwort „Nein“. 2008 wurde die Soko Bosporus in eine zusätzliche Mordkommission der Nürnberger Polizei verwandelt, Spezialgebiet Altfälle.
2010 ging Mähler in Pension und im ersten Jahr verging keine Woche, in der er nicht mit früheren Kollegen über den Fall sprach. Im zweiten Jahr dachte er, er hätte ihn endlich abgeschüttelt. Doch am 11. November packte ihn der Fall wieder, mit voller Wucht.
Mit den früheren Kollegen der Soko Bosporus diskutiert Mähler jetzt fast täglich die Frage, wieso der thüringische Verfassungsschutz nicht über die abgetauchten Neonazis informierte, die so perfekt in das Täterprofil der zweiten Fallanalyse gepasst hätten. Er sagt dann: „Man braucht viel Erfahrung, um mit V-Leuten zu arbeiten. Ich denke, die Thüringer haben aus Unerfahrenheit Fehler gemacht.“ Über andere Möglichkeiten wolle er gar nicht nachdenken.
Doch erst wenn er sicher weiß, wieso er und die anderen Ermittler der Soko Bosporus keine Informationen über das untergetauchte Nazi-Trio erhielten, ist für ihn der Fall abgeschlossen. Dann wird das Unbehagen wieder endgültig verschwinden. Oder für immer bleiben. (Veronica Frenzel)
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