Ingolstadt, August 2013: Ein Mann dringt in das Alte Rathaus ein und nimmt vier Geiseln, darunter eine 25-jährige Sekretärin. Neun Stunden dauert die Geiselnahme, bis ein Sondereinsatzkommando sie unblutig beenden kann. Es stellt sich heraus: Der Geiselnehmer ist ein Stalker, der die Rathaus-Mitarbeiterin seit Jahren verfolgt.
München, Oktober 2013: Seit Monaten stellt der Mann seiner Ex-Frau nach. Ein gerichtlich verhängtes Kontaktverbot ignoriert er. Anfang Oktober führt die Polizei mit ihm eine sogenannte Gefährderansprache, die jedoch ohne Wirkung bleibt. Zwei Wochen später ersticht der Mann die 29-Jährige im Hausflur. Die Mutter zweier Kinder stirbt noch am Tatort.
Augburg, November 2015: Ein Mann steht vor Gericht, der seine Ex-Freundin seit mehreren Monaten tyrannisiert. Er lauert ihr auf und verprügelt sie. Auch ihm ist das gerichtliche Kontaktverbot egal. Als er seine Ex mit ihrem neuen Freund im Auto erblickt, rast er mit seinem Wagen auf sie zu und verursacht beinahe einen Zusammenstoß. Das Amtsgericht verurteilt den 32-Jährigen zu einer Bewährungsstrafe von neun Monaten. Außerdem muss er seiner Ex-Freundin rund 3000 Euro Schmerzensgeld bezahlen.
Vor allem Fälle, in denen der Ex-Partner involviert ist, nehmen zu
Auch wenn diese Fälle zu den extremeren gehören mögen, Einzelfälle sind sie nicht. Geschätzt 600 000 Stalking-Opfer gibt es in Deutschland. Seit im März 2007 der Nachstellungsparagraf 238 in Kraft trat, ist Stalking eine Straftat. In Bayern wurden im Jahr 2014 1633 Stalking-Fälle angezeigt. Das sind 5,7 Prozent weniger als im Vorjahr.
Tatsächlich geht die Zahl gemeldeter Stalking-Fälle in Bayern wie auch in ganz Deutschland seit Jahren langsam zurück. Allerdings sind diese Zahlen nur sehr bedingt aussagekräftig. Denn Stalking ist ein Straftatbestand mit einer sehr hohen Dunkelziffer. Viele Opfer zeigen ihre Peiniger gar nicht erst an. Dazu kommt: Stalking als Straftat geht häufig mit häuslicher Gewalt oder Körperverletzung einher und wird dann nicht mehr separat ausgewiesen.
Von einem Stalking-Rückgang bemerken die Beratungsstellen jedenfalls nichts. „Ich habe das Gefühl, dass die Fälle eher zunehmen“, sagt Christine Doering, die in Garmisch-Partenkirchen Bayerns einzige Selbsthilfegruppe für Stalking-Opfer ins Leben gerufen hat und leitet (www.stalking-justiz.de). „Stalking-Fälle machen inzwischen bis zu 40 Prozent unserer Beratungstätigkeit aus“, sagt auch Sabine Böhm, Geschäftsführerin der Frauenberatung Nürnberg (frauenberatung-nuernberg.de). „Vor allem Fälle, in denen der Ex-Partner involviert ist, nehmen zu.“
50 Anrufe in der Nacht, SMS-Terror, Auflauern vor der Wohnungtür
90 Prozent der Stalking-Opfer sind weiblich, 80 Prozent der Täter sind männlich. 50 Anrufe in der Nacht, SMS-Terror, Auflauern vor der Wohnungstür, Verfolgungsjagden mit dem Auto und immer wieder die Androhung von Gewalt. Das sind typische Peinigungen, die Opfer erdulden müssen. Dazu kommt vermehrt Cyber-Stalking. „Die Täter nutzen immer mehr die sozialen Netzwerke, um ihre Opfer zu verfolgen und zu verunglimpfen“, sagt Siegfried Zens, Stalking-Experte beim Opferschutzkommissariat der Münchner Polizei.
Ein großes Problem: Es dauert meist einige Wochen und Monate, bis sich die Opfer Hilfe suchen. „Das Thema Stalking ist schambehaftet“, sagt Doering, selbst ehemaliges Stalking-Opfer. „Oft haben die Frauen und Männer, die ich berate, schon einen längeren Leidensweg hinter sich.“ Hinzu kommt, dass es in Bayern kaum spezielle Beratungsstellen für Stalking-Opfer gibt. Die einzige, die es in München gab – die Deutsche Stalking-Opferhilfe – wurde im vergangenen Jahr aus finanzieller Not geschlossen. Der Verein hatte sich jahrelang vergebens bei Stadt und Land um Fördermittel bemüht.
Betroffene müssen sich deshalb in der Regel an die allgemeinen Frauenberatungsstellen wenden. „Es ist kein idealer Zustand“, sagt Böhm von der Frauenberatung Nürnberg. „Ein weitgefächertes Angebot wäre sehr wünschenswert, um den Betroffenen den Weg zu einer Beratung zu erleichtern und um die Wartezeiten für eine Beratung zu verkürzen.“ Um das Angebot auszubauen, fehlt es an Geld.
„Ich vermisse den politischen Willen von Seiten der Staatsregierung, an der oftmals prekären finanziellen Situation der Opferschutz-Beratungsstellen etwas zu verändern“, klagt die grüne Landtagsabgeordnete Verena Osgyan. Kurz bevor die Deutsche Stalking-Opferhilfe schließen musste, hatte Osgyan noch einen Antrag gestellt, um die dauerhafte Finanzierung von Opfer-Beratungsstellen sicherzustellen. „Der Antrag wurde abgelehnt“, sagt Osgyan. „Es ist ein Skandal, dass ein reiches Land wie Bayern es nicht schafft, Beratungsstellen, Notrufe und Frauenhäuser mit genügend finanziellen Mitteln auszustatten.“
„Uns sind oft die Hände gebunden“, klagt die Polizei
Wenn Stalking-Opfer ihren Peiniger vor Gericht bringen wollen, brauchen sie vor allem eines: Durchhaltevermögen. Und sie müssen wissen, dass dies nicht so einfach ist. „Nach jetziger Gesetzeslage sind den Ermittlungsbehörden in vielen Stalking-Fällen die Hände gebunden“, sagt Zens vom Opferschutzkommissariat. Nur wenn die Lebensführung des Opfers massiv beeinträchtigt ist, wenn etwa das Opfer aus seiner Wohnung ausgezogen ist oder seine Arbeitsstelle gewechselt hat, greift der Stalking-Paragraf. Es reicht nicht, wenn das Opfer unter psychischem Stress, unter Schlafstörungen und Alpträumen leidet.
Bayerns Regierung setzt sich deshalb schon seit 2012 und in mehreren Anläufen für eine Gesetzesreform ein. Ginge es nach Justizminister Winfried Bausback sollte man im Stalking-Paragraph statt eines sogenannten Erfolgs- von einem Eignungsdelikt sprechen. Dann könnten die Staatsanwaltschaften auch gegen den Täter vorgehen, wenn das Opfer an seiner Lebensführung festhält. Über die Notwendigkeit einer Reform herrscht in der Politik zwar Einigkeit, sie steht auch im Koalitionsvertrag. Passiert ist bisher dennoch nichts.
Beraterin Böhm rät betroffenen Frauen dennoch dringend dazu, zur Polizei zu gehen und Anzeige zu erstatten. „Sie kann in jedem Fall eine so genannte Gefährder-Ansprache durchführen“, erklärt Böhm. Beamten zeigen dem Täter die Folgen auf, sollte er sein Tun nicht unterlassen. Böhm betont: „In vielen Fällen führt schon dieses Mittel zum Erfolg.“ (Beatrice Oßberger)
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