"Septembermärchen": Wenn sich beim wichtigsten Thema alle einig sind und obendrein eine große Koalition mit gut 80 Prozent Mehrheit regiert, kann eine Generaldebatte über den Kanzleretat kaum eine Sternstunde parlamentarischer Auseinandersetzung werden. Aber eine Botschaft kann sie senden.
Wie am heutigen Mittwoch im Bundestag. Von CSU bis zur Linken stimmen alle überein, dass Deutschland den richtigen Kurs in der Flüchtlingspolitik eingeschlagen hat. Der große Schlagabtausch bleibt aus. Er wäre dem Ernst der Lage mit den Hunderttausenden Flüchtlingen und der überraschenden Offenherzigkeit der Bürger nicht angemessen. Grünenfraktionschefin Katrin Göring-Eckardt nennt die Deutschen "Weltmeister der Hilfsbereitschaft". Sie schwärmt: "Ein Septembermärchen."
Manch Grüner mochte im deutschen "Sommermärchen" 2006, als die "Welt zu Gast bei Freunden" war, nicht einmal laut für Deutschland bei der Fußballweltmeisterschaft jubeln - aus Sorge, Begeisterung für die eigene Mannschaft könnte als Nationalstolz missverstanden werden. Nun sagt Göring-Eckardt: "Ich kann zum ersten Mal sagen, dass ich uneingeschränkt stolz auf mein Land bin." Mit Ausnahme der Rechtsextremen, die Asylbewerberheime anzünden.
Kanzlerin Angela Merkel bekommt von allen Fraktionen Beifall, als sie "die ganze Härte des Rechtsstaats" gegen solche Menschen ankündigt. Diese Härte haben viele in Sachsen vermisst, als Asylbewerber in Heidenau ein ganzes Wochenende rechte Gewalt erlebten, ohne dass die Polizei hart durchgriff. Merkel sagt: "Wir werden nicht zulassen, dass unsere Grundwerte von Fremdenfeinden verraten werden."
Merkel ist nicht bekannt als gute Rednerin, aber wie schon in der vorigen Woche spricht sie so, dass jeder verstehen kann, was jetzt passiert: Deutschland wird sich verändern. Das heißt auch: Es wird multikulturell. Die Kanzlerin versucht, den Bürgern die Angst vor einem solchen Umbruch zu nehmen. Drei Gründe führt sie dafür an.
Erstens: Deutschland ist wirtschaftlich in guter Verfassung, was auch an jahrelanger solider Finanzpolitik der Bundesregierung liege. Das mache es möglich, auf solche Herausforderungen reagieren zu können -wohl ohne Steuererhöhungen oder direkte Einschnitte bei der Bevölkerung. Zweitens: "Keine Toleranz" gegenüber jenen aus ganz anderen Kulturkreisen, die sich nicht integrieren wollen. Es dürften sich keine Parallelgesellschaften bilden. "Wir müssen deutlich machen, welche Regeln bei uns herrschen." Drittens: Abgelehnte Asylbewerber würden schneller und konsequenter in ihre Heimat zurückgeschickt - "so schwer ihr persönliches Leben auch sein mag".
In ihrer Rede wirbt sie aber wieder und wieder um Mitgefühl für die Flüchtlinge aus Kriegsregionen - "bislang ein fürchterliches Jahr". Sie nimmt Deutschland in die Pflicht: Nur wenige Flugstunden von Deutschland entfernt herrschten Tod, Terror und Verzweiflung. "Diese Konflikte in Syrien, im Irak finden nicht irgendwo statt, sondern letztlich vor den Toren Europas." Und wenn Deutschland außen- und entwicklungspolitisch etwas versäume, könne das innenpolitische Folgen haben. Also mehr Kraftanstrengung in den Konfliktregionen.
Gysi: Ein bisschen müsst ihr mich noch ertragen
Genau hier habe Deutschland bisher versagt, beklagt Linksfraktionschef Gregor Gysi. Das Land sei mitverantwortlich für die Entstehung und Eskalation solcher Krisen. Unheilvoll seien die Rüstungspolitik und deutschen Waffenexporte in die ganze Welt: "Stoppen Sie wenigstens die Lieferungen an Diktaturen." Außerdem müsse sich Deutschland mehr für Armutsbekämpfung einsetzen. "Ein bisschen müsst ihr mich noch ertragen", sagt die Führungsfigur der Linken. Es ist eine seiner letzten Reden als Fraktionschef.
Vizekanzler Sigmar Gabriel gibt ein Statement ab, ohne zu reden: Er hat sich den Button "Wir helfen" der Flüchtlingskampagne der "Bild"-Zeitung an das dunkelblaue Jackett geheftet. DerSPD-Chef unterstützt wie viele andere Politiker und Prominente die Hilfsaktion des Blattes ("#Refugees welcome").
Die Hilfe könnte belohnt werden, zeigt sich Merkel zuversichtlich. Denn: "Wenn wir es gut machen, es mutig angehen (...), dann können wir letztlich nur gewinnen." Sie denkt dabei vermutlich an die Bereicherung, Lebendigkeit und ganz neue Impulse für eine immer älter werdende Gesellschaft durch verschiedene Kulturen, aber auch neue Fachkräfte und Rentenbeitragszahler. Sie appelliert: "Wir müssen jetzt einfach anpacken." Und Göring-Eckardt sieht in der Aufnahme der Flüchtlinge und der neuen Willkommenskultur schon eine Zeitenwende: "Wenn wir es schaffen könnten, das als Chance zu begreifen, wäre das vielleicht der Geburtstag eines neuen Deutschlands." (Kristina Dunz, Claudia Thaler, dpa)
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