Es war das Jahr 2007, als Tamara Lorenz ihre Tochter Beatrice in der örtlichen Grundschule einschulen lassen wollte. Vergeblich. „Der Direktor hat mir klar zu verstehen gegeben, dass er sie nicht an seiner Schule will“, erzählt die 38-Jährige. Die Schule hätte keine Ressourcen, und Beatrice sei als Down-Syndrom-Kind doch unter ihresgleichen am besten aufgehoben. Damals musste Lorenz aufgeben. „Ich hatte keine rechtliche Handhabe“, sagt sie. Beatrice kam in die Förderschule.
2009 jedoch trat in Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft,
die besagt, dass jedes behinderte Kind das Recht hat, in einer Regelschule gemeinsam mit Nichtbehinderten unterrichtet zu werden. Lorenz ging wieder zum Grundschuldirektor. „Ich war nach zwei Jahren Förderschule, in denen Beatrice so gut wie nichts gelernt hatte, noch mehr davon überzeugt, dass für meine Tochter eine Regelschule das Richtige ist“, sagt sie. Und dieses Mal setzte sie sich durch. Beatrice wurde das erste geistig behinderte Kind im Landkreis Rhön-Grabfeld, das in eine Regelschule ging. „Inklusion“, sagt Lorenz heute, „ist ein Recht, das man sich erkämpfen muss. Macht man nichts, passiert auch nichts.“
Das ist eine Erfahrung, die heute, fast sechs Jahre nach dem Inkrafttreten der UN-Konvention, immer noch viele Eltern machen müssen. In Sachen Inklusion hinkt Deutschland dem Rest Europas hinterher. Während in vielen Ländern Inklusionsanteile von 50 bis 95 Prozent erreicht werden, liegt hierzulande der Anteil der förderungsbedürftigen Schüler in Regelschulen bei 28,8 Prozent. Bayern erreicht 27,2 Prozent.
"Beatrice war ein Pilotprojekt"
Inklusion bedeutet mehr als Integration. Es bedeutet, dass das gesamte schulische System so angepasst werden muss, dass für behinderte Schüler ein gleichberechtigter Zugang zum Unterricht gewährleistet ist. Das ist eine Mammut-Aufgabe, und entsprechend hitzig ist die Diskussion. Beatrice jedenfalls konnte nach zwei Jahren an der Grundschule das Alphabet, kurze Worte lesen und schreiben. „Sie hat damit zu 100 Prozent mehr erreicht als in den zwei Jahren auf der Förderschule“, sagt Lorenz. Natürlich habe es in diesen zwei Jahren, und auch danach, noch Probleme gegeben. Auch die Lehrer hätten sich erstmal an die Situation gewöhnen müssen, hätten lernen müssen, Beatrices Fähigkeiten richtig einzuschätzen. „Sie war ein Pilotprojekt“, sagt Lorenz. „Und dennoch – ihr hat es gut getan. Und alle, die jetzt nach uns kommen, werden es leichter haben.“
Bloß keine Förderschule. Das sagte sich auch Marcel Consée. Als sein Sohn Linus mit Down-Syndrom auf die Welt kam, war für ihn klar: „Linus soll mitten in der Gesellschaft aufwachsen, und nicht isoliert unter Behinderten in einer Schule, deren einziges Ziel es ist, die Kinder auf ein Leben in der Behindertenwerkstatt vorzubereiten.“ Linus sollte ein gewisses Maß an Bildung erreichen, um später ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen zu können.
Linus geht heute in die vierte Klasse einer Münchner Regelgrundschule in Laim. In eine so genannte Tandemklasse, die neben dem Grundschullehrer auch ein Sonderpädagoge unterrichtet. Die Schüler gehören der Grundschule an, „mit allen Rechten und allen Pflichten“, wie Consée betont. 23 Kinder gehen in diese Klasse, sieben sind wie Linus geistig behindert oder in ihrer sozial-emotionalen Entwicklung gestört. „Linus geht gerne in die Schule, er hat Freunde gefunden, und er hat Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt“, sagt Consée, der heute auch zweiter Vorsitzender des Vereins Down-Kind ist.
Was ist noch echte Inklusion?
Der einzige Wehrmutstropfen ist die Entfernung. Die Familie wohnt in der Au, die meisten von Linus Klassenkameraden in Laim, also eine mindestens halbstündige Autofahrt entfernt. „Dass seine Freunde spontan zum Spielen vorbeikommen, ist deshalb schwierig“, sagt Consée. Für die Grundschule in Laim, und gegen die Sprengelschule, habe aber gesprochen, dass der Verein schon sehr gute Erfahrungen mit dieser Schule gemacht habe. „Das“, sagt Consée, „hat letztlich den Ausschlag gegeben.“
Ist eine Tandemklasse mit sieben behinderten Kindern noch „echte“ Inklusion? Für Consée schon, für Christine Primbs vom Netzwerk Inklusion Bayern nicht. „Zu viele behinderte Kinder in einer Klasse überfordern die nichtbehinderten Kinder“, sagt sie. „Außerdem geht es bei der Inklusion ja auch darum, die Kinder vor Ort, in ihrem Dorf oder in ihrem Stadtviertel zu integrieren.“ Für Primbs ist die Einzelintegration an der Sprengelschule deshalb der Idealfall. „Voraussetzung dafür ist natürlich, dass die Schule in allen Belangen entsprechend gerüstet ist.“
Aber ist tatsächlich jedes Kind, unabhängig von seiner Persönlichkeit und seiner Behinderung, für einen inklusiven Unterricht geeignet? Das ist nur eine der Fragen, über die immer wieder leidenschaftlich gestritten wird. Eine neue Studie befeuert die Diskussion gerade wieder. Wissenschaftler vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen kommen zum Schluss, dass Kinder mit Förderbedarf mehr und besser lernen, wenn sie mit nichtbehinderten Kindern unterrichtet werden. Der Einspruch anderer Inklusionsforscher erfolgte prompt. Ein Lernvorsprung sei zwar da, verringere sich auf längere Sicht aber wieder.
Statistisch betrachtet haben Deutschland und Bayern zuletzt zwar enorm aufgeholt: Der Inklusionsanteil steigt stetig an. Aber es gibt einen Haken: Der Anteil der Förderschüler geht nicht entsprechend zurück. In Bayern beträgt der Rückgang in den letzten fünf Jahren 7,5 Prozent auf aktuell 52 680 Förderschüler – doch dieser ist laut Wissenschaftlern vor allem der demographischen Entwicklung zuzuschreiben.
Das bedeutet: Es gibt heute mehr förderungsbedürftige Kinder. „Zehn Prozent mehr als noch vor fünf Jahren“, heißt es in der Bertelsmann-Studie „Inklusion in Deutschland“, in der Experten folgende Schlussfolgerung ziehen: Die Umsetzung der Inklusion laufe zurzeit, ohne am Sonderschulwesen etwas zu ändern. „Das gefährdet die Umgestaltung des Schulsystems grundlegend, denn
der Erhalt der Sonderschulen bindet wichtige Ressourcen.“ Zudem erweise sich der Besuch einer Sonderschule für die Mehrheit der Schüler nach wie vor als Sackgasse. 72,6 Prozent verlassen laut Studie die Förderschule ohne Hauptschulabschluss.
Anette Billmayer ist Mutter des geistig behinderten Lorenz. „Das Schlimmste für mich ist“, sagt sie, „dass sich niemand einig ist, dass sich nicht einmal die Pädagogen einig sein können, wie Inklusion gut funktionieren könnte.“ Die Oberhachingerin hat lange überlegt, ob sie Lorenz auf die örtliche Grundschule schickt. „Aber Lorenz“, sagt sie, "ist ein eher sperriges Down-Syndrom-Kind, das sehr, sehr stark zum Lernen animiert werden muss. Wir hatten nicht den Eindruck, dass diese Regelschule das leisten kann, zumal auch kein Sonderpädagoge zur Verfügung gestanden hätte.“
"Die Förderschule war eine Offenbarung"
Seit vier Jahren geht der Zehnjährige nun in eine private Waldorf-Förderschule für geistig behinderte Kinder. „Das ist ein wunderbarer, tiefenentspannter Ort“, sagt Billmayer, „Lorenz fühlt sich dort sehr wohl.“ Lesen und Schreiben könne er zwar noch nicht, aber er habe dennoch dort viel gelernt. „Er ist offener und selbstbewusster geworden“, sagt die Mutter, „er hat in seiner ganzen Persönlichkeitsentwicklung große Fortschritte gemacht.“ Dennoch, bei Billmayer bleiben leise Zweifel. „Ich befürworte die Inklusion“, sagt sie, „und manchmal denke ich mir, vielleicht hätte ich es Lorenz doch an der Regelschule versuchen lassen sollen. Ich bin in dieser Frage nach wie vor zerrissen.“
Ines Baier hat sich dagegen ganz bewusst für eine Förderschule entschieden. „Für meinen Sohn ist sie zumindest momentan der richtige Weg“, sagt sie. Der neunjährige Zoran hat Epilepsie, was in Zorans Fall häufige Absencen bedeutet,
Bewusstseinsverluste. Dadurch, sagt die Mutter, lernt er etwas langsamer als andere Kinder. „Wir haben uns in Nürnberg viele Schulen angesehen, aber nie waren wir überzeugt, dass sie den Bedürfnissen unseres Sohnes gerecht werden können“, sagt Baier, die selbst Pädagogin ist. „Die Förderschule für Körperbehinderte dagegen war da fast wie eine Offenbarung. Es ist eine schöne, eine fröhliche Schule, mit – das war uns wichtig – kleinen Gruppen.“ Stress und Druck lösen bei Zoran Absencen aus, eine Klasse mit bis zu 30 Schülern wie an Regelschulen wäre für ihn deshalb sehr schwierig gewesen.
Die Familie hat einen eigenen Weg der Inklusion gefunden. Nach der Schule geht Zoran in eine Hortbetreuung, die nahe an seinem Zuhause liegt. Hier ist er mit nichtbehinderten Kindern zusammen, zum Lernen und zum Spielen, hier hat er Freunde gefunden, hier muss er sich auch behaupten. „Zoran muss sich auch blöde Sprüche wegen seiner Krankheit anhören“, sagt Baier, „aber es ist uns wichtig, dass er lernt, sich durchzusetzen. Wir können ihn nicht vor allem beschützen.“ Ob Zoran doch irgendwann auf eine Regelschule wechselt, lässt Baier offen. Auch Anette Billmayer ist offen für einen Wechsel: „Wenn es bei uns ein schulisches Angebot geben sollte, das wirklich inklusiv ist, dann werden wir noch einmal sehr darüber nachdenken.“
Beatrice ist heute 13 und geht auf eine Mittelschule. Gerade hat sie ihre Lehrer damit überrascht, wie gut sie auf der Computer-Tastatur schreiben kann. Aber auch ihr Weg ist offen. „Beatrice bleibt nur so lange in der Regelschule, so lange es ihr guttut und sie sich wohl fühlt“, sagt Ihre Mutter. „Inklusion hin oder her, das Wichtigste ist doch immer noch das Wohl des Kindes.“ (
Beatrice Oßberger)
Fotos (v. o.):
Beatrice ging erst auf eine Föderschule, seit sie aber die Regelschule besucht, „hat sie zu 100 Prozent mehr erreicht“, sagt Mutter Tamara Lorenz; privat
Familie Billmayer im letzten Sommer. Lorenz (r.) geht auf eine private Waldorf-Förderschule, ein wunderbarer, tiefenentspannter Ort“, sagt seine Mutter Anette; privat
Ihren Sohn Zoran hat Ines Baier bewusst auf eine Förderschule geschickt. Heute sagt sie: „Sie war eine Offenbarung.“; privat
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