Es ist ein düsteres Bild, das der Türkei-Experte Ludwig Schulz zeichnet. Er glaubt, Erdoğan wird das Verfassungsreferendum gewinnen. Letztendlich sei das aber unerheblich, denn auch im Falle einer Niederlage würde der die autokratische Machtkonsolidierung fortführen – mit Hilfe des Ausnahmezustands. Mit großen Auswirkungen auch auf Deutschland.
BSZ: Herr Schulz, am Sonntag entscheidet das türkische Volk über das Verfassungsreferendum. Wagen Sie eine Prognose?Ludwig Schulz: Recep Tayyip Erdoğan hat alle Wahlen und Referenden seit 2002 gewonnen und nun
eine nationalistisch-konservative Allianz hinter sich vereint. Das sollte reichen, um über 50 Prozent der Stimmen zu bekommen.
BSZ: Warum hat Erdoğan noch immer so viele Anhänger – angesichts der Rechtlosigkeit und Willkür muss doch bald jeder um seine Existenz und Freiheit fürchten?Schulz: Die Mehrheit der Bevölkerung in der Türkei ist konservativ und patriotisch bis nationalistisch, es gibt nur wenige liberale Kräfte. Zudem wird die politische Haltung der Bevölkerung durch regierungsnahe Medien beeinflusst. Trotz der massiven Verwerfungen seit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 sind viele davon überzeugt, damals den gewählten Präsidenten und die Demokratie verteidigt zu haben. Fürchten vor Repression müssen sich diejenigen, die gegenüber dem Regime offen kritisch eingestellt sind – doch das sind immer mehr: Oppositionelle, Kurden, Intellektuelle, Journalisten.
BSZ: Gerade unter den Deutschtürken verehren manche Erdoğan wie einen Popstar. Warum?Schulz: Viele junge Deutschtürken kennen nur die Türkei des Tayyip Erdoğan, der – in ihren Augen – das Land modern, groß und stolz gemacht hat. Sie identifizieren sich zudem mit dem „Underdog“, der sich stets gegen alle Gegner und Widerstände hochgekämpft hat. Da ist natürlich eine Spur Illusionierung im Spiel, denn für nachhaltigen Erfolg braucht man Partner und muss Kompromisse machen – das verschweigt Erdoğan und manipuliert so die Menschen, die sich als scheinbar stark sehen, wenn sie ihn unterstützen.
BSZ: Und Erdoğan verschweigt auch, wie sehr die Wirtschaft der Türkei leidet. Investoren ziehen sich zurück und der Tourismus erlebt einen massiven Einbruch.Schulz: Ja, die wirtschaftliche Lage ist in manchen Bereichen zunehmend prekär. Die Lira hat massiv an Wert verloren, Arbeitslosigkeit und Inflation sind hoch. Zudem sind gerade ausländische Investoren sehr verunsichert, da ihnen die politische Stabilität der letzten 15 Jahre fehlt. Die Regierung hält sich mit Staatsaufträgen in Infrastruktur und Energie über Wasser, doch das sind weder nachhaltige Investitionen für Arbeitsmarkt und Wirtschaftswachstum noch Entlastungen für den zunehmend angespannten Staatshaushalt.
BSZ: Setzt Erdoğan damit aber nicht auch den eigenen Rückhalt in der Bevölkerung aufs Spiel?Schulz: In vieler Hinsicht scheint es jedenfalls, dass Erdoğan merkt, dass er mit dem Rücken zur Wand steht: innenpolitisch nach dem Putschversuch, die Wirtschaft schwächelt, außenpolitisch häufen sich die Probleme. Durch das Referendum kann er seine Machtposition festigen.
"Der einzige Hebel - die EU-Beitrittsverhandlungen - greift nicht mehr"
BSZ: Was, glauben Sie, passiert nach dem Referendum?Schulz: Im Erfolgsfall beginnt eine Übergangszeit bis 2019, bis die meisten Reformen voll greifen. Andere, wie etwa die Parteizugehörigkeit des Präsidenten, sollen sofort umgesetzt werden. Damit beginnt dann die Gewaltenverschränkung, die der demokratischen Gewaltenteilung widerspricht. Manche Beobachter argumentieren allerdings, dass es unerheblich ist, ob Erdoğan das Referendum gewinnt oder verliert. In letzterem Fall bleiben der Ausnahmezustand und damit die Durchgriffsrechte der Exekutive einfach aufrechterhalten.
BSZ: Welche Hebel haben dann Deutschland und die EU, auf Erdoğan einzuwirken?Schulz: Erdoğans autoritäre Machtkonsolidierung wird nicht aufzuhalten sein. Der einzige Hebel – die Beitrittsverhandlungen mit der EU – greift längst nicht mehr. Über Reform oder Repression wird in Zukunft der Präsident selbst entscheiden. Momentan wären Anreize wichtig, um die Politisierung herunterzufahren, sich wieder auf verbindende Sachfragen zu konzentrieren: Wirtschaft und Handel, Wissenschaft und Technik, die politische und soziale Entwicklung in der Region des Nahen und Mittleren Osten. Das sind die eigentlich verbindenden Themen.
BSZ: Der Anreiz EU-Beitritt dürfte jedenfalls in weite Ferne gerückt sein.Schulz: Sollte die Türkei die Todesstrafe wieder einführen, dann werden die Verhandlungen ebenso suspendiert, wie wenn sich nach dem Referendum herausstellen sollte, dass der Autokratisierungskurs Erdoğans anhält. Derzeit geht es um die Glaubwürdigkeit der EU. Erdoğan wiederum hat durch seine Politik und Rhetorik der vergangenen Wochen vorgebaut und das Lager der Zweifler in der Türkei, die die EU als unehrlich oder gar feindlich der Türkei gegenüber betrachten, in ihren Ansichten bestärkt.
BSZ: Welche Anreize könnte die EU an die Türkei denn sonst senden?Schulz: Mittelfristig wird man einen Plan B zum EU-Beitritt benötigen – die Brexitverhandlungen mit Großbritannien können eine alternative Form der Mitgliedschaft hervorbringen, die auch für die Türkei interessant sein könnte. Eine Reform der Zollunion, Visafreiheit und eine gemeinsame Grenzpolitik, Sicherheit und Verteidigung – all diese Felder bieten Gelegenheit zur vertieften Zusammenarbeit.
BSZ: Wer braucht wen mehr? Die Türkei Deutschland oder umgekehrt?Schulz: Das ist kaum zu sagen. In vielen Bereichen ist die Beziehung so eng, dass man einander braucht – aber gleichsam drohen beide immer wieder mit Scheidung. Doch Politik ist keine Ehe, sondern eine andauernde Unternehmung, die vor allem Verständigung, Kompromissbereitschaft und Orientierung verlangt. Das vor allem wollen die Menschen auf beiden Seiten, die sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten nähergekommen sind, von den Politikern, die dieser Aufgabe derzeit aber nicht nachkommen.
"Auch in Deutschland und Bayern wird mit
Erdoğan Wahlkampf betrieben und entsprechend provoziert“
BSZ: Auf die anhaltenden Provokationen Erdoğans hat die Bundesregierung aber doch sehr zurückhaltend reagiert. War das klug?Schulz: Bürger verlangen von der deutschen Politik klare Kante gegen solche Anfeindungen. Gerade nun, vor den Bundestagswahlen, tut sich die deutsche Opposition leichter damit als die Regierung, die ihre Reaktionen abwägen muss. In der Sache aber waren die moderaten Reaktionen gut, denn antitürkische Reaktionen aus Europa hätte Erdoğan für seine nationalistische Politik vor dem Referendum noch mehr instrumentalisieren können.
BSZ: Wird Erdoğan nach dem Referendum die Provokationen Richtung EU und Deutschland wieder einstellen?Schulz: Er dürfte sie einstellen, sofern sie ihm nicht mehr nützlich sind. Dass Erdoğan damit die Beziehungen aber langfristig vergiftet hat, hat Tiefenwirkung. Allerdings dürfen wir nicht übersehen, dass auch in Deutschland mit Erdoğan und der Türkei Wahlkampf betrieben wird und entsprechend auch bei uns provoziert wird.
BSZ: Inwiefern?Schulz: Gerade die Oppositionsparteien nutzen die Chance, beispielsweise den Flüchtlingspakt der Bundeskanzlerin mit der Türkei beziehungsweise die Unberechenbarkeit Erdoğans zu kritisieren – ohne jedoch konstruktive Vorschläge zu machen, wie das Problem gelöst werden sollte. Zudem bedienen linke Parteien hierzulande auch stets ihre Klientel – zum Beispiel in der kurdischstämmigen Community. Ebenso gehört es zum Standard der CSU, bei jeder sich bietenden Gelegenheit den Abbruch der Beitrittsverhandlungen zu fordern – obwohl der Beitritt sowieso fern der Tagesordnung steht. Hierbei geht es nur darum, die konservativen Stammwähler in der Türkeifrage an sich zu binden.
BSZ: Immer wieder droht Erdoğan mit der Aufkündigung des Flüchtlingsabkommens. Wie realistisch ist diese Gefahr?Schulz: Es ist gut möglich, dass die Türkei erklärt, sich an die Vereinbarung nicht mehr gebunden zu fühlen. Dann dürften wieder Flüchtlinge versuchen, auf griechische Inseln überzusetzen oder auf dem Landweg in die EU zu kommen. Gerade im deutschen Wahlkampf wären solche Entwicklungen Wasser auf die Mühlen der Populisten. Allerdings müsste die Türkei dann auch wieder allein die drei Millionen Flüchtlinge im Land versorgen – eine Kündigung wäre für sie also kostspielig.
(
Interview: Angelika Kahl)
Ludwig Schulz
Der gebürtige Ingolstädter leitet das Forschungsprogramm Naher und Mittlerer Osten des Centrums für angewandte Politikforschung (CAP) an der LMU München und ist externer Mitarbeiter des Orient-Istituts in Berlin. Derzeit arbeitet er an seiner Dissertation zur Außenpolitik der türkischen AKP-Regierung.
(Foto: BSZ)
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