15 Jahre Hartz-Vorschläge: Darüber, wie die Ideen eines VW-Managers die Republik veränderten, gehen die Meinungen weit auseinander
Es war die Zeit der Krisen-Talkshows. Anfang des vergangenen Jahrzehnts galt Deutschland vielen Wirtschaftsforschern als der „kranke Mann Europas“. Im Jahr 2002 hatte die Arbeitslosigkeit mit mehr als fünf Millionen Jobsuchenden einen traurigen Rekord erreicht.
Die damalige rot-grüne Bundesregierung wollte deshalb den Sozialstaat radikal umbauen und hatte eine Kommission unter Leitung des damaligen VW-Personalvorstands Peter Hartz beauftragt, Vorschläge für eine bessere Arbeitsmarktpolitik zu machen. Am 16. August 2002 präsentierten die Experten dann ihr Reformkonzept und übergaben es dem damaligen Kanzler Gerhard Schröder (SPD).
Eineinhalb Jahrzehnte ist es das nun her. Und noch immer gehen die Meinungen über kaum ein politisches Projekt so weit auseinander wie über die Hartz-Reformen: Die Wirtschaft, die Unions-Parteien sowie viele sozialdemokratische Entscheidungsträger halten die damals verabschiedeten Sozialgesetze im Wesentlichen für geglückt. Im SPD-geführten Bundessozialministerium ist man überzeugt, diese hätten „maßgeblich und nachhaltig zum wirtschaftlichen Erfolg beigetragen“. Von einer „Erfolgsgeschichte“ spricht auch eine Sprecherin des CSU-geführten bayerischen Wirtschaftsministeriums. CDU und Arbeitgeberverbände sehen das genauso.
Aus Sicht von Ulrich Schneider, Chef des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, sind die Hartz-Reformen dagegen „gescheitert“. Und Klaus Ernst, stellvertretender Vorsitzender der Linken-Bundestagsfraktion, kritisiert diese gar als „Armut per Gesetz, die in den Mülleimer der Geschichte gehört“. Auch die Gewerkschaften fordern massive Nachbesserungen.
Die Hartz-Gesetze bestehen aus vier Maßnahmenpaketen: Durch Hartz I wurden 2003 die Möglichkeiten für Leiharbeit massiv ausgeweitet. Hartz II sah eine verbesserte Förderung von Existenzgründungen vor. Nahm die Zahl der Menschen, die sich selbstständig machten, in Folge der Hartz-Reform zunächst zu, war sie in den vergangenen Jahren aufgrund von Förderkürzungen wieder zurückgegangen.
Im Zuge von Hartz III wurde das damalige Arbeitsamt umstrukturiert. So gibt es seither Jobcenter, in denen sich die Sachbearbeiter gezielt um Langzeitarbeitslose kümmern sollen.
Sozialverbände: „Hartz IV – Sackgasse ohne Perspektive“
Hartz IV hatte der heutige Arbeitgeber-Lobbyist Wolfgang Clement einmal als die „Mutter der Reformen“bezeichnet. In seiner Zeit als Bundeswirtschaftsminister von 2002 bis 2005 hatte er Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammengelegt. Zugleich kürzte sein Ministerium die Ansprüche auf Arbeitslosengeld massiv. Bekamen Erwerbslose vor der Reform bis zu drei Jahre einen großen Teil ihres letzten Gehalts als staatliche Unterstützung weitergezahlt, fließt das Geld seither meist nur mehr maximal ein Jahr lang. In den Folgejahren wurde bei den Ansprüchen älterer Arbeitnehmer etwas nachgebessert.
Zugleich können die Arbeitsagenturen Arbeitslosengeld-II-Empfängern, die sich aus Sicht der Behörde nicht kooperativ zeigten, den Hartz-IV-Satz massiv kürzen.
Sozialverbände würden Hartz IV gerne komplett reformieren. Wohlfahrts-Mann Schneider sagt: „Millionen von Arbeitssuchenden wurden dadurch unter die Armutsgrenze gedrückt.“ Für die Mehrzahl der Betroffenen sei Hartz IV „zur Dauereinrichtung und damit zur Sackgasse ohne Perspektive geworden“. Die Regelsätze seien von derzeit 409 auf 520 Euro zu erhöhen, die Sanktionen abzuschaffen.
„Die Arbeitsmarktreformen waren eine wesentliche Voraussetzung für die gute Arbeitsmarktsituation in den vergangenen Jahren“, sagt dagegen eine Sprecherin des Bundesarbeitsministeriums. Sie verweist darauf, dass durch die Reform auch Sozialhilfeempfänger „einen Weg zur aktiven Arbeitsförderung erhalten“. Das bayerische Wirtschaftsministerium betont ebenfalls, Hartz IV habe „spürbare Anreize zur Arbeitsaufnahme gesetzt“.
Fakt ist: Zwischen 1992 und 2005 gingen etwa drei Millionen sozialversicherte Stellen verloren. Mittlerweile gibt es dagegen mehr als 45 Millionen Erwerbstätige in Deutschland, so viele wie noch nie. Die Zahl der Arbeitslosen halbierte sich von fast 4,9 Millionen im Jahr 2005 auf zuletzt rund 2,5 Millionen. Langzeitarbeitslos sind derzeit rund eine Million Menschen, Mitte des vergangenen Jahrzehnts waren es noch 700 000 mehr. Neben prekären Jobs entstanden auch viele sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze.
Union: „Reformen sind aktive Arbeitsförderung“
Kritiker argumentieren jedoch, dass schlicht Vollzeit- in Teilzeitjobs umgewandelt worden seien. Manche Wirtschaftsforscher wie etwa beim DIW gehen zudem davon aus, dass die Ursache für das Jobwachstum gar nicht in der Arbeitsmarktpolitik gelegen habe. Schuld an der Rekordarbeitslosigkeit Anfang des vergangenen Jahrzehnts sei die Zinspolitik der Europäischen Zentralpolitik sowie die Weltkonjunktur gewesen.
Unstrittig ist dagegen, dass die Gehälter vieler Deutscher inflationsbereinigt nach Einführung von Hartz IV gesunken waren: Die Reallöhne brachen ab 2004 so stark ein, dass sie noch 2013 unter dem Niveau zu Beginn des vergangenen Jahrzehnts lagen. Vor allem Geringverdiener und die untere Mittelschicht verzeichneten einen Wohlstandsverlust. Im Jahr 2010 verdiente knapp ein Viertel aller Beschäftigten weniger als 9,54 Euro brutto pro Stunde. Aufgrund des Mindestlohns legten ab 2015 jedoch auch die Gehälter im unteren Segment wieder deutlich zu.
Der Sinn der Hartz-Konzepte sei „das Drücken der Löhne“, ist der Linken-Abgeordnete Ernst überzeugt und fügt hinzu: „Und hier haben die Beteiligten ganze Arbeit geleistet.“
In der Kritik steht auch Hartz I. Vor der Reform gab es in Deutschland gut 300 000 Leiharbeiter, mittlerweile sind es rund eine Million. Den Unternehmen bringt diese Beschäftigungsform Flexibilität, sie können aus Sicht von Befürwortern so Auftragsspitzen besser abfedern, da sie Zeitarbeiter in der Krise ohne jegliche Abfindungen entlassen können. Für die Angestellten bedeutet diese Form der Beschäftigung jedoch oft über Jahre hinweg berufliche Unsicherheit.
Ein hoher Leiharbeiteranteil erschwert aus Sicht von DGB und Linken zudem die Streikmöglichkeiten: „Die Angst vor Hartz IV ist riesig“, sagt Ernst. Die Folge sei eine geringere Mitbestimmung und geringere Löhne.
Gewerkschaften und Linke fordern erhebliche Nachbesserungen bei Hartz IV – die SPD hätte gerne kleinere Korrekturen. Arbeitgeberverbände und Union wollen dagegen keine Änderungen, um die guten Arbeitsmarktzahlen nicht zu gefährden. Und so wird auch nach den Wahlen fleißig über die Hartz-Reformen gestritten werden. (Tobias Lill)
Kommentare (1)