Politik

In Bayern erhielten letztes Jahr nur 45 der 769 opioidabhängigen Gefangenen eine Ersatzbehandlung. (Foto: dpa)

08.09.2016

Kalter Entzug statt Therapie

Bayern verweigert heroinsüchtigen Gefangenen Ersatzstoffe – was auch die Bundesdrogenbeauftragte von der CSU empört

Harte Vorwürfe: Bayern wolle Heroinsüchtige extra hart für ihre Sucht bestrafen, sagt der Anwalt des Häftlings, dessen Klage gegen verwehrte Methadongaben erfolgreich war. Selbst die Parteikollegin des CSU-Justizministers, Marlene Mortler, die Bundesdrogenbeauftragte, wünscht sich eine mildere Linie der Bayern. Bayern hat gegen die Menschenrechte verstoßen, weil einem heroinsüchtigen Häftling die Behandlung mit einem Ersatzstoff vorenthalten wurde – das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte letzte Woche entschieden. Obwohl die Bundesregierung innerhalb von drei Monaten Berufung gegen das Urteil einlegen kann, gilt es als Signal für die rund 12 500 Heroinabhängigen in deutschen Gefängnissen. Doch in Bayern dürften die Hoffnungen der Betroffenen enttäuscht werden.

Denn obwohl die Richter darauf hinwiesen, dass die Behörden den Gesundheitszustand des Betroffenen nicht sorgfältig genug geprüft, die falsche Therapie gewählt und dem Kläger dadurch unnötig Leid zugefügt haben, sieht sich das Ressort von Bayerns Justizminister Winfried Bausback (CSU) bestätigt: Die Praxis im Justizvollzug entspreche dem Urteil des Gerichtshofs, teilt das Justizministerium mit. Die Richter hätten schließlich bestätigt, dass Anstaltsärzte einen Spielraum bei der Wahl der Behandlungsmethoden hätten und nicht jede Opioidabhängigkeit zwingend zu substituieren sei. Zwar werde die Entscheidung zum Anlass genommen, die Anstalten erneut für eine bessere Prüfung des Einzelfalls zu „sensibilisieren“. Primäres Ziel sei aber weiter die Drogenabstinenz.

Das regt die gesamte Landtagsopposition auf, selbst die konservativen Freien Wähler finden die CSU-Linie zu hart. Franz Schindler (SPD), Vorsitzender des Rechtsausschusses im bayerischen Landtag, nennt das Urteil im Gespräch mit der Staatszeitung „eine Ohrfeige für die äußerst restriktive Praxis der Substitutionsbehandlung“. „Anscheinend gilt in Bayern immer noch die völlig überholte Haltung, dass Drogensucht durch erzwungene Enthaltsamkeit heilbar sei“, schimpft Eva Gottstein (Freie Wähler), die Anstaltsbeirätin in der betroffenen Justizvollzugsanstalt in Kaisheim ist. Dabei sei nach Aussagen der Anstaltsleiter keine bayerische Haftanstalt drogenfrei.

Studie: Methadon hilft, Drogenkonsum zu senken

Andere Experten können die Haltung des Ministeriums ebenfalls nicht nachvollziehen. Nicht mal die CSU-Politikerin und Bundesdrogenbeauftragte Marlene Mortler: "Die Substitutionsbehandlung ist oftmals ein wesentlicher Baustein einer erfolgreichen Drogentherapie", sagt sie der Staatszeitung. "Wenn die medizinischen Voraussetzungen für eine Substitutionsbehandlung vorliegen, sollte diese auch erfolgen, egal ob der Patient auf freiem Fuß ist oder nicht. Auf die besonderen Anforderungen im Strafvollzug sind hierbei Rücksicht zu nehmen." Noch deutlicher wird der Vorstand der Deutschen Aidshilfe Winfried Holz: „Was eigentlich eine Selbstverständlichkeit ist, musste das Europäische Gericht der bayrischen Landesregierung noch einmal ins Stammbuch schreiben.“

Bereits 2011 kam die Premos-Studie zu dem Ergebnis, dass durch Substitution weniger Drogen konsumiert werden. In der Folge wurde die Verbesserung der Situation von drogenabhängigen Häftlingen als Ziel in die nationale Strategie zur Drogen- und Suchtpolitik der Bundesregierung aufgenommen. In den Richtlinien der Bundesärztekammer zur Substitution steht ausdrücklich, dass in Haft „die Kontinuität der Behandlung sicherzustellen“ ist. Und rechtlich steht Gefangenen gemäß bayrischem Strafvollzugsgesetz die gleiche medizinische Behandlung zu wie in Freiheit. Doch nach Angaben des bayerischen Justizministeriums erhielten letztes Jahr nur 45 der 769 opioidabhängigen Gefangenen eine Ersatzbehandlung. Für den Anwalt des Klägers Florian Haas steckt dahinter die Vorstellung, „dass die Inhaftierten zur Strafe einsitzen und das auch deutlich spüren sollen“.

Der Kläger, Wolfgang W., ist seit rund 40 Jahren drogensüchtig. In den 80er-Jahren erhielt er als erster Heroinabhängiger in Bayern eine Substitutionsbehandlung, also synthetische Ersatzopioide wie Methadon. Sie wirken ähnlich schmerzlindernd, aber ohne den herointypischen Kick. Durch die kontrollierte Einnahme unter Aufsicht sollen bundesweit aktuell 77 000 Menschen trotz Sucht wieder ein geregeltes Leben führen lernen. Denn von der Droge wieder wegzukommen ist zwar körperlich, aber selten psychisch möglich. „Das Suchtgedächtnis im Gehirn gilt als unauslöschbar“, erklärt Beate Zornig von der Suchthilfe Condrobs.

Immer wieder musste Wolfgang W. wegen Beschaffungskriminalität ins Gefängnis. Zur Klage kam es, als er 2008 in die Justizvollzugsanstalt Kaisheim kam, wo ihm die Behandlung mit dem Ersatzstoff plötzlich verweigert wurde. Grund: In Deutschland kann darüber jede Haftanstalt selbst entscheiden. W. machte einen kalten Entzug durch. Ein Methadonentzug dauert laut Condrobs mehrere Wochen. In dieser Zeit leiden die Menschen unter Depressionen, Muskelkrämpfen, Schlaflosigkeit oder Erbrechen.

Andere Bundesländer haben mit der Substitutionsbehandlung schon lange keine Probleme mehr. In Bremen werden zum Beispiel rund 20 Prozent aller Häftlinge substituiert. „Ein substituierter Gefangener kann vom vollzuglichen Angebot eher erreicht werden“, heißt es auf Anfrage aus dem Justizministerium in Nordrhein-Westfalen. In Thüringen werden gemessen an der Einwohnerzahl fast doppelt so viele Menschen substituiert wie in Bayern. Und Baden-Württemberg hat sogar den Weg für die Originalstoffvergabe in Haft freigemacht – bisher aber noch nicht in die Praxis umgesetzt.

Aus Sicht des Brandenburger Justizministers Stefan Ludwig (Linke), der den Vorsitz der Justizministerkonferenz inne hat, wäre es „wünschenswert“, wenn andere Bundesländer der Auffassung des Gerichtshofs folgen würden. Eine Anmeldung des Themas Substitution liege bei der Herbstkonferenz der Justizminister derzeit aber nicht vor. (David Lohmann)

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