Politik

Ministerpräsident Hans Ehard mit seinem Kabinett. Erste Reihe (von links): Arbeitsminister Albert Roßhaupter, Hans Ehard, Justizminister Wilhelm Hoegner. Zweite Reihe: Landwirtschaftsminister Joseph Baumgartner, Kultusminister Alois Hundhammer, Innenminister Josef Seifried, Sonderminister Alfred Loritz. (SZ Photo)

19.04.2024

Kunstgriff oder Manipulation?

Die erste freie Wahl eines bayerischen Ministerpräsidenten im Jahr 1946 verlief turbulent und gibt Fachleuten bis heute Rätsel auf: Wie demokratisch war diese Wahl?

Draußen ist es bitterkalt. Minus 20 Grad. In der Aula der Universität in München sitzen die frisch gewählten Abgeordneten des Bayerischen Landtags am 21. Dezember 1946 in ihren Mänteln, wie die Chronik des Landtags und auch der ehemalige SPD-Ministerpräsident Wilhelm Hoegner in seinen Erinnerungen vermerkt. Er war bis zur Wahl von den amerikanischen Besatzungsbehörden ernannt worden. Nun steht die erste freie Wahl eines bayerischen Ministerpräsidenten auf der Tagesordnung. Sie wird fast acht Stunden dauern, von 13 bis 21 Uhr. Immer wieder gibt es Verzögerungen.

Die CSU hatte die Wahl gewonnen, stellte mit 104 der 180 Abgeordneten die Mehrheit, und ihr Parteivorsitzender Josef Müller wollte Ministerpräsident werden. Doch in der eigenen Partei gab es Gegner. Die Gruppe seiner Anhänger „schien völlig ahnungslos“, wie Hoegner im Rückblick schrieb. Müllers Widersacher Alois Hundhammer beantragte wegen der Witterungsverhältnisse mehrfach, die Sitzung zu vertagen, damit alle Abgeordneten anreisen könnten. Dabei fehlten nur drei, wie Wolfgang Reinicke in seiner Dissertation über den politischen Neubeginn in Bayern schreibt. Müllers parteiinterne Gegner benötigten Zeit, um ihren Widerstand zu organisieren. 

Kompromisskandidat Ehard

In einem Sammelband über die bayerischen Ministerpräsidenten, der am Donnerstag in der Staatskanzlei vorgestellt wurde, schreibt der Historiker Thomas Schlemmer, Müller „scheiterte“ bei der Wahl. Es klingt, als habe er nicht genügend Stimmen erhalten. Der Kompromisskandidat Hans Ehard siegte im zweiten Wahlgang. Das ist nicht völlig falsch, aber es verkürzt und verharmlost die tatsächlichen Ereignisse. So steht es auch in einem Porträt über Josef Müller der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung und in einem Porträt über Hans Ehard der Konrad-Adenauer-Stiftung. In einer Ausstellung und einer Publikation über die bayerischen Ministerpräsidenten wurde das im Jahr 1999 so dargestellt, ebenso in vielen Zeitungsbeiträgen. Das klingt stets so, als sei die Wahl völlig demokratisch verlaufen. Tatsächlich gab es eine Intrige nicht nur der eigenen Partei gemeinsam mit der SPD, sondern auch ein fragwürdiges Vorgehen der Wahlleitung. 

Die Kernfrage lautet daher: Verlief die erste Wahl eines bayerischen Ministerpräsidenten wirklich demokratisch? Oder begann die Demokratie in Bayern mit einer Entscheidung des Landtags, die Beteiligte aufgrund eigener Interessen manipulierten, um einen Kandidaten zu verhindern, obwohl er die nötige Mehrheit erhalten hatte? Landtagspräsident Michael Horlacher (CSU) ermahnte die Abgeordneten 1946, das ganze Volk schaue auf diese Wahl, die „in echt demokratischer Weise“ erfolgen müsse. Doch ausgerechnet Horlachers Verhalten gibt der Forschung Rätsel auf. 

Horlacher sagte den Abgeordneten vor der Wahl, es sei die einfache Mehrheit erforderlich. Einziger Kandidat war Josef Müller. Er erhielt 73 der 175 Stimmen. 69 waren gegen ihn. Ehard erhielt 33 Stimmen, obwohl er gar nicht kandidiert hatte. Der Landtagspräsident hätte Müller zum Wahlsieger erklären müssen. Stattdessen sagte er, Müller habe nicht die erforderliche absolute Mehrheit erhalten und deshalb sei ein zweiter Wahlgang nötig. Es gab lautstarke Proteste. Denn vor der Wahl hat Horlacher den Wahlmodus so erklärt, dass lediglich Stimmen für den Kandidaten oder mit einer deutlichen Willensäußerung (Ja oder Nein) gültig seien. Nachzulesen ist das im Protokoll der Sitzung vom 21. Dezember 1946, das seit einigen Monaten online steht.

Eine Manipulation – oder etwa doch nicht? Ferdinand Kramer, Professor für Bayerische Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität, verweist auf die Dissertation von Wolfgang Reinicke. Dieser schreibt, entscheidend sei gewesen, was Horlacher den Abgeordneten nicht sagte, nämlich, dass laut Verfassung jeder zum Ministerpräsidenten gewählt werden könne. Somit seien auch die Stimmen für Ehard gültig gewesen, die Horlacher zu den Nein-Stimmen addierte. Ob ein Gericht so entschieden hätte, ist jedoch ungewiss. Es gab damals jedenfalls noch kein Gericht für Verfassungsfragen, und Müller verzichtete auf Einspruch bei den Militärbehörden. 

Thomas Schlemmer, der am Institut für Zeitgeschichte forscht, hat den Sachverhalt in seiner Dissertation ausführlich behandelt und Horlachers problematisches Vorgehen darin als „Kunstgriff“ bezeichnet. Aus Platzgründen habe er im aktuellen Sammelband über die Ministerpräsidenten nur vom „Scheitern“ geschrieben, sagt er. 

Nicht alle formulieren das so milde. Der Historiker Horst Möller, ehemals Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, bezeichnet den Wahlvorgang von 1946 in seiner Strauß-Biografie 2015 als „unerhörten Fall“. Horlacher hätte Müller zum Wahlsieger erklären müssen. Er führt aus: „Bei der Wahl eines Regierungschefs demontiert die Minderheit in der Fraktion durch ein abgekartetes Spiel vor den Augen der gegnerischen Parteien ihren eigenen Parteivorsitzenden; der ihr angehörige Parlamentspräsident erfindet nicht vorhandene Bestimmungen der Geschäftsordnung, wendet andere falsch an und verkündet vor dem Wahlakt einen anderen Wahlmodus als danach.“ Auf Nachfrage betont Möller das „höchst problematische Verhalten Horlachers“ als Kern der Kritik. 

Eine Intrige

Die Intrige und die Wahl sind aber auch für die SPD und ihre Lichtgestalt Wilhelm Hoegner kein Ruhmesblatt. Er war mit eingebunden. In seiner Autobiografie Der schwierige Außenseiter notierte er schlicht, Müller habe „die erforderliche Mehrheit“ nicht erreicht. Die SPD lehnte Müller entschieden ab, weil er angeblich sämtliche sozialdemokratischen Beamten entlassen wollte, wie Hoegner schreibt. Er wurde Ehards Stellvertreter. 

Manfred Treml, ehemals stellvertretender Leiter des Hauses der Bayerischen Geschichte und Herausgeber der Geschichte des modernen Bayern, sagt, aufgrund der Widersprüche und Unklarheiten sei es wünschenswert, die Umstände der Wahl weiter zu erforschen und zu klären. Ähnlich äußern sich Wolfgang Reinicke, derzeit beschäftigt beim Haus der Bayerischen Geschichte, sowie Christian Petrzik, Leiter des Archivs der Hanns-Seidel-Stiftung. 

Treml und Reinicke schreiben übrigens auch, dass Hundhammer vor dem zweiten Wahlgang bei Kardinal Faulhaber anfragen ließ, ob man den Katholiken Ehard zum Ministerpräsidenten wählen könne, obwohl er evangelisch geheiratet habe. Aber auch das ist umstritten. (Thomas Schuler)
 

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