Politik

Die Erfolgsaussichten einer Verfassungsklage gegen die aktuelle deutsche Flüchtlingspolitik sind groß, sagt der Regensburger Juraprofessor Ekkehard Schumann. (Foto: dpa)

22.01.2016

"Natürlich kann man das Grundrecht auf Asyl beschränken"

Der Prozessrechtler Ekkehard Schumann über das Gutachten des Verfassungsrichters Udo di Fabio zur Flüchtlingspolitik

Vergangene Woche stellte Bayerns Regierung ein Gutachten vor, das sie bei Ex-Verfassungsrichter Udo Di Fabio in Auftrag gegeben hatte. Er kommt darin zu dem Schluss, dass Merkels Flüchtlingspolitik der offenen Grenzen rechtswidrig ist. Die bayerische Regierung behält sich eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht vor. Die BSZ sprach mit dem Juraprofessor Ekkehard Schumann über Details der Di-Fabio-Expertise und Erfolgsaussichten einer Klage.
BSZ: Herr Schumann, ist Ihnen ein Fall bekannt, bei dem ein Land erwogen hat, die Bundesregierung zu verklagen, an der es selbst beteiligt ist?
Ekkehard Schumann: Aus dem letzten Jahr erinnere ich mich an die Normenkontrollklage gegen das Betreuungsgeld, die der SPD-geführte Hamburger Senat erhoben hatte; in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht trat dieser Klage das ebenfalls von der SPD geführte Bundesfamilienministerium entgegen. Im Verfahren des Organstreits klagte im Jahr 1993 die FDP-Bundestagsfraktion im Out-of-Area-Einsätze-Prozess gegen die auch von ihr gestellte Bundesregierung. Dies sind sicher außergewöhnliche Konstellationen, aber sie sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts prozessual durchaus zulässig. BSZ: Im Moment sagt Bayerns Regierung: Wir wollen nicht unbedingt klagen, sondern mit dem Gutachten erst mal zeigen, dass wir Recht haben. Aber ist es nicht so, dass man immer einen Gutachter findet, der eine gewünschte Rechtsposition vertritt?
Schumann: Aber keinen qualifizierten Gutachter! Ein Mann wie der frühere Bundesverfassungsrichter Di Fabio ist über den Vorwurf der Einseitigkeit erhaben. Ich habe sein Gutachten ganz gelesen und finde es brillant. BSZ: Hans-Jürgen Papier, der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, sagte vergangene Woche in einem Interview, der Streit um die deutsche Flüchtlingspolitik müsse politisch ausgetragen werden. Dies sei kein justiziabler Streit. Wie sehen Sie das?
Schumann: Nach dem Grundgesetz ist jedes staatliche Handeln grundsätzlich gerichtlich überprüfbar, vor allem darf das Bundesverfassungsgericht die Maßnahmen und Unterlassungen der Bundesregierung rechtlich überprüfen. Ich halte die Erfolgsaussichten einer Klage, die auf dem Gutachten Di Fabios beruht, für groß. Aber vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand.

"Merkel darf nicht das Gesetz außer Kraft setzen"

BSZ: Glauben Sie, die Staatsregierung macht Ernst und reicht irgendwann tatsächlich Klage ein?
Schumann: Ich hoffe es. Schließlich sind wir im Zustand permanenter Rechtswidrigkeit. Die Bundeskanzlerin hat eine Situation zu verantworten, die einzigartig ist in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Die Kanzlerin hat im vergangenen September entschieden, geltendes Recht wie vor allem die Dublin-III-Verordnung und das Grundgesetz sowie deutsches Gesetzesrecht außer Kraft zu setzen. Dafür hatte sie nicht die Kompetenz, wie Di Fabio mit Hinweis auf namhafte Juristen darlegt und auch ein Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages vom 30. November 2015 erkennen lässt. BSZ:  Was ist falsch daran, Flüchtlinge ins Land zu lassen? Das Asylrecht ist ein Grundrecht, und Merkel sagt, es gibt dafür keine Obergrenze.
Schumann: Natürlich kann man ein Grundrecht beschränken. Jeder Abiturient weiß, dass es trotz des Grundrechts auf einen Studienplatz eine Reihe von Studienfächern mit einem Numerus clausus gibt, und er erfährt auf diese Weise, wie sehr Teilhabe- und Leistungsgrundrechte eine Obergrenze haben können und sogar müssen. Und Münchner Taxifahrer können ein Lied davon singen, wie lange sie warten mussten, bis sie eine Zulassung erhielten; denn das Gemeinwohl lässt keine unbegrenzte Zahl von Taxis zu – trotz des Grundrechts der Berufsfreiheit. Ähnlich verhält es sich mit dem Grundrecht auf Asyl. Die Gemeinwohlverantwortlichkeit des deutschen Staates gilt selbstverständlich auch bei diesem Grundrecht. Die Lektüre des Gutachtens von Di Fabio zeigt dies deutlich. BSZ: Aber wer soll entscheiden, ob das Gemeinwohl so viele Flüchtlinge verträgt?
Schumann: Es ist Sache der demokratisch berufenen politischen Organe, zu bestimmen, was gut fürs Gemeinwohl ist. Ich denke, Kommunalpolitiker können hier helfen und sehr gut beurteilen, weil sie unmittelbar zuständig sind für die Lösung der Probleme vor Ort. Der Regensburger Oberbürgermeister Joachim Wolbergs von der SPD zum Beispiel hat auf seinem Neujahrsempfang die Meinung geäußert, Deutschland verkrafte nicht mehr als jährlich 200 000 bis 300 000 Flüchtlinge. BSZ: Bisher hat die Versorgung der Flüchtlinge jedenfalls in Bayern sehr gut geklappt.
Schumann: Zurzeit gibt es nach dem Gutachten Di Fabios in Deutschland eine sehr hohe Zahl von Flüchtlingen, die nicht registriert sind. Da kann man doch nicht sagen, dass es gut gelaufen ist. Richtig ist: Es ist trotz höchster Belastung in Bayern kein Flüchtling zu Schaden gekommen. Mit überwältigender Unterstützung der bayerischen Bevölkerung gelang es den zuständigen Behörden, die Flüchtlinge vorbildlich zu behandeln. Ich hoffe sehr, dass dies so bleibt.

"Ich rechne damit, dass einzelne Bürger auf Grundlage des di Fabio Gutachtens jetzt klagen"

BSZ: Die Mehrzahl der Flüchtlinge fällt nicht unter das Asylrecht des Grundgesetzes, weil sie keine politisch Verfolgten sind. Sie unterliegen als Bürgerkriegsflüchtlinge der Genfer Flüchtlingskonvention. Sind Obergrenzen hier möglich?
Schumann: Selbstverständlich. Di Fabio führt das hervorragend aus. Die Genfer Flüchtlingskonvention kennt eine Begrenzung in gleicher Weise wie das Grundgesetz. Im Übrigen verweist Di Fabio auf die EU-Massenzustromrichtlinie. Diese Richtlinie ist im Zusammenhang mit dem Balkan-Krieg im Jahr 2001 erlassen worden und gewährt nur einen vorübergehenden Schutz mit einer grundsätzlichen Dauer von lediglich einem Jahr. Die Bundesregierung – so Di Fabio – hat die Massenzustromrichtlinie bisher nicht benutzt. Insgesamt zeigt Di Fabio in seinem Gutachten in beeindruckender Weise die vielfältigen, kaum noch zu überblickenden Vorschriften, die es zur Migrationskrise im Völkerrecht, im Unionsrecht, im Grundgesetz, in deutschen Gesetzen und Verordnungen gibt. BSZ: Gesetzt den Fall, man würde alle Rechtsmöglichkeiten ausschöpfen: Was soll dann mit den Flüchtlingen passieren? Soll man sie an der Grenze einfach wieder zurückschicken?
Schumann: Dies ist die notwendige Konsequenz etwa von Obergrenzen und folgt schon jetzt aus der seit 1993 geltenden Drittstaatenklausel des Grundgesetzes. BSZ: Di Fabio sagt in seinem Gutachten: Bevor man klagt, muss man abwarten, ob die Bemühungen um eine europäische Lösung der Flüchtlingsfrage greifen.
Schumann: Solange kann man wohl nicht warten. Es gibt eine Frist von sechs Monaten, innerhalb der die Staatsregierung klagen muss, wenn sie die Grenzöffnung aus dem Herbst 2015 angreifen will. BSZ: Wenn man als Beginn des Rechtsbruchs Merkels Entscheidung vom September nimmt, die Grenzen zu öffnen, liefe die Frist im März ab. Bis dahin will die Staatsregierung aber mit Blick auf die dann stattfindenden Landtagswahlen eher nicht klagen. War es das dann?
Schumann: Es gäbe die Möglichkeit, die Klage fristgerecht einzureichen und erst später eingehend zu begründen; aber ich halte dies für keinen guten Weg. Man könnte auch vom Tatbestand der „Unterlassung“ ausgehen, also davon, dass die Bundesregierung es unterlässt, geltendes Recht anzuwenden. In einem solchen Fall gibt es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keine feste Frist, aber eben doch eine zeitliche Begrenzung. Ich halte es jedoch für gefährlich, eine derartige Alternative zu wählen, weil ungewiss ist, wann das Bundesverfassungsgericht das Ende dieser Zeitgrenze ansetzt. Außerdem vergibt man dann den prozessualen Angriff auf die „Maßnahme“ in Gestalt der September-Entscheidung der Bundeskanzlerin. BSZ: Könnte auch ein ganz normaler Bürger klagen und sich dabei auf das Di-Fabio-Gutachten berufen?
Schumann: Ja. Das Gutachten ist ja jetzt in der Welt und quasi Allgemeingut. Ich rechne ohnehin damit, dass einzelne Bürger Verfassungsbeschwerde einreichen. Eigentlich wäre es Sache der Opposition im Deutschen Bundestag, die von Di Fabio dargestellten Rechtsverstöße der Regierung zu kritisieren und gegebenenfalls das Bundesverfassungsgericht anzurufen. Aber in der Flüchtlingsfrage haben wir den seltenen Fall, dass es im Bundestag keinen Widerspruch gibt, weil die parlamentarische Opposition das Verhalten der Bundesregierung für richtig hält. Also ist eigentlich quivis ex populo – der deutsche Staatsbürger – aufgerufen, mittels Verfassungsbeschwerde die Argumente Di Fabios vorzutragen.
(Interview: Waltraud Taschner )

Kommentare (4)

  1. Max Murx am 18.06.2016
    Ich lese gerade das Kapitel "Staatsvolk und Einwanderung" vom Freiburger Professor für öffentliches Recht Dietrich Murswiek in: "Der Staat in der Flüchtlingskrise" von Depenhauer und Grabenwarter (Hrsg).
    Unter den vielen Ohrfeigen, die er der Kanzlerin erteilt, halte ich ein paar für bemerkenswert, die ich hier zitieren will:

    1. Was gegenwärtig unter Billigung der Bundesregierung geschieht, ist eine Umstrukturierung der Bevölkerung Deutschlands...Es gibt nicht wenige, die dies gut finden...Aber die Identität des Volkes verdampft nicht von alleine. Gegenwärtig ist sie gefährdet durch politische Entscheidungen der Bundesregierung. Und die Bundesregierung ist an das Grundgesetz gebunden. Sie ist nicht berechtigt, die Identität des Volkes, das sie repräsentiert, und dessen Wohl zu wahren sie geschworen hat, einwanderungsolitisch aufzulösen. Rechtlich steht dem das Grundgesetz entgegen.
    2....Indem die Bundeskanzlerin diese Entscheidung aus einem moralischen Bauchgefühl heraus spontan getroffen hat, ohne zuvor das Parlament zu fragen, hat sie den demokratischen Parlamentsvorbehalt eklatant verletzt.
    3..Indem die Bundesregierung sich über das Gesetz stellt, handelt sie nicht nur rechtsstaatswidrig, sondern auch ohne demokratische Legitimation...Was zur Zeit stattfindet, ist der totale Kontrollverlust..
    4. Die Regierung darf nicht die Identität des Volkes, dem sie ihre Legtimation verdankt, strukturell verändern.Das Volk ist das Subjekt der Demokratie. Die Regierung leitet ihre Legitimation von diesem Subjekt ab, aber darf nicht über das Subjekt verfügen....Das ist mit dem Prinzip der Volkssouveränität nicht vereinbar.
    5. Das Selbstbestimmungsrecht...verlangt, dass das Volk selbst die Entscheidung darüber trifft, ob es statt in einem eigenen Nationalstaat in einem multiethnischen und multikulturellen Staat leben will.

    Das sind nur einige der Ohrfeigen des Juristen Murswiek. Ich finde diese sind aber mehr als genug, um von einem anständigen Menschen zu verlangen, von einem Regierungsamt zurückzutreten.
  2. heidi am 22.01.2016
    Ich wohne in Frankreich und als Deutschlehrerin kann ich die Deutschen Bürger kaum verstehen. Wird Deutschland zu einer Merkel Diktatur ? Warum beklagen sich so wenige leute über Merkel's Imigrantenpolitik ?
    Eine Million mehr Leute mit einer ganz anderen Kultur muss integriert werden. Vielleicht wird es zu 2 Millionen Kommen. Warum reagieren die Leute nicht heftig ? Warum sind die Deutschen so diszipliniert unter der leitenden Person des Staates ?
    Muss Deutschland immer wieder riesiege Probleme in Europa schaffen ? Wenn nicht Krieg, jetzt unbegrentze Immigration, die zu Revolten oder Krieg fÜhren könnte ?
  3. otto regensbacher am 22.01.2016
    @Markus: Danke für dieses Statement!

    Was Merkel betrifft, sie ist die größte Rechtsbrecherin an der Spitze unseres Staates seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland. So dumm kann sie ja wohl nicht sein, dass sie nicht wusste, was sie tat, als sie gegen deutsches-, EU-Recht und sogar gegen unsere Verfassung verstieß und über eine Million Araber, Afrikaner und sonstige Migranten aller möglichen Staaten gezielt nach Deutschland schleusen ließ. Sie machte das alles in voller Absicht. Diese Frau aus dem Osten will ganz offensichtlich bei uns so eine Art Kanzlerdiktatur einführen. Und bisher gelang ihr das bestens. Als normaler Bürger versteht man die demokratischen Parteien Deutschlands nicht mehr, die diesen Rechtsbruch zulassen. Und so macht diese abgehobene Frau unvermindert weiter, bis wir eine weiter zusätzliche Million Migranten aller Völkerschaften in Deutschland haben. Merkel, die ehemalige FDJ-Funktionärin für Propaganda und damaliges bekennendes Mitglied des FDGB, bringt nun ihr "volksdemokratisches Verständnis" in unserem Staat ein. Sie regiert gegen die Interessen des Volkes; ein (fast) einmaliger Vorgang in der Geschichte Deutschlands! Der Sturz dieser undemokratisch agierenden Person ist in der Tat überfällig!
  4. Markus am 22.01.2016
    Ein bemerkenswertes Interview mit Herrn Schumann.
    Herr Schumann sagt (siehe oben): „Die Kanzlerin hat im vergangenen September entschieden, geltendes Recht wie vor allem die Dublin-III-Verordnung und das Grundgesetz sowie deutsches Gesetzesrecht außer Kraft zu setzen. Dafür hatte sie nicht die Kompetenz, wie Di Fabio mit Hinweis auf namhafte Juristen darlegt und auch ein Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages vom 30. November 2015 erkennen lässt.“
    Hierzu meine Meinung bzw. Hypothese:
    1. wenn Frau Bundeskanzlerin Merkel keine Kompetenz hatte, das GG, deutsches
    Gesetzesrecht sowie die Dublin- III –Verordnung außer Kraft zu setzen, dann müssen
    im Umkehrschluss Gesetzesbrüche begangen worden sein;
    2. weil insbesondere das GG die Grundlage aller gesetzlichen Normen ist, müssten als
    Konsequenz, Verstöße, begangen von der Exekutive (zweite Säule der Staatsgewalt) gegen
    das GG als Offizialdelikte und keinesfalls als Antragsdelikte eingestuft sein.
    Als Folge wären bei Bekanntwerden sofort entsprechende Verfahren von offizieller Seite
    einzuleiten;
    3. zudem hat das BVerfG als dritte Säule der Staatsgewalt die Aufgabe, über die Einhaltung
    des GG durch die staatlichen Stellen zu wachen. Das BVerfG müsste demnach bereits tätig
    geworden sein.
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