Unser Bayern

Der heilige Bischof Nikolaus von Myra soll drei armen Mädchen durch Goldkugeln zu einer Aussteuer verholfen haben. Auf der Wiebelsheimer Darstellung sind die Pflanzenmotivik und die bäuerliche Schlafkammer besonders ausgeprägt. (Foto: Andreas Reuß)

17.11.2017

Hochkarätiges im Verborgenen

Im Schatten des großen Dürer: Ein Streifzug zu spätgotischer Kunst in abgelegenen fränkischen Dorfkirchen

Das Rieseln des Wassers, schrieb Adalbert Stifter, halte er für genauso „groß“ wie das Beben der Erde. Der Böhmerwald-Dichter, der Details zu schätzen wusste und neben seinem Lehramt als Denkmalpfleger tätig war, hielt nicht nur die ausladende Barockkunst an der Donau, sondern auch den gotischen Flügelaltar im kleinen Ort Kefermarkt bei Linz, den er vor der Beseitigung rettete, für großartig; heute beurteilt man ihn als einen der bedeutendsten spätgotischen Schnitzaltäre überhaupt. In Bayern – wo manche rieselnde Quelle mit einer Nikolaus-Kapelle verbunden ist – fällt der Blick vieler Kunstreisender bevorzugt auf die Metropolen und ihre berühmten Museen. Jeder, der sich etwa für die Kunst im „Herbst des Mittelalters“ interessiert, kennt die unschätzbar wertvollen Gemälde Albrecht Dürers in den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen in München oder im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg. Aber wer besucht die Flügelaltäre auf dem Land, in Abtswind, Füttersee, Kalchreuth oder Puschendorf? Sie alle stammen aus der Zeit Dürers, der sicher ein „Erdbeben“ in der Kunstgeschichte auslöste. In den abgelegenen Dörfern des Steigerwaldes oder im Nürnberger Land, oft in kleinen Kapellen, verstecken sich spätgotische Kunstwerke, die das Gemüt eines Reisenden ebenfalls erbeben lassen können – und den „großen Dürer“ aus seiner Zeit heraus erklärbar machen. Der Forscher Konrad Bedal registrierte über 160 Flügelaltäre in fränkischen Dorfkirchen. Die Frage, warum sich gerade in evangelischen Kirchen so viele dieser Schnitzaltäre mit Gemälden erhalten haben, ist durchaus umstritten. Wahrscheinlich war es weniger der manchmal angeführte Respekt vor der Kunst als das Bedürfnis nach Bewahrung ortsgebundener Traditionen, das die Altäre vor der reformatorischen Bilderzensur bewahrte. Speziell das ländliche Volk setzte seit dem Bauernkrieg seine Interessen nachhaltiger durch. Und auf dem Land waren es besonders die Frauen, die im „Frühling der Neuzeit“ nach neuen Rollenbildern suchten. Den Altaraufsatz der Pfarrkirche von Abtswind beispielsweise besetzen nahezu ausschließlich Frauenfiguren: in der Mitte eine bedeutende Pietà, rechts die heilige Barbara und links die Heiligen Dorothea und Katharina. Gerade Letztere gewähren in prachtvoller Kleidung, sehr langer Haartracht und stolzer Haltung Einblicke in das Leben junger Landfrauen vor 500 Jahren, eine Existenz zwischen Arbeitsalltag und Sonntagsstaat. Die Kunstwissenschaft hat ihnen bislang wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Der maßgebliche Kunsthistoriker Tilmann Breuer spricht im Dehio-Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler von einer „schwächeren Hand“, die hier arbeitete. Möge diese Hand von den großen fränkischen Bildschnitzern jener Zeit – Adam Kraft, Tilman Riemenschneider und Veit Stoß – weit entfernt sein; aber das Große – künstlerisch und intellektuell – war den Menschen in den kleinen, entlegenen Pfarrdörfern nicht unbedingt eine Möglichkeit, sich selbst wieder zu finden. Das gelang ihnen in Orten wie Schlüsselau bei Bamberg sicher auf wunderbare Weise; denn an der südlichen Seitenschiffwand der ehemaligen Zisterzienserinnen-Klosterkirche ist ein farbenfrohes Gemälde von der Heiligen Sippe angebracht. Die Frauen unterhalten sich in der Art von Müttern, spielerisch auf das Jesuskind ausgerichtet. Die bärtigen Männer bleiben im Hintergrund. Das Jesuskind macht gerade seinen ersten Schritt, was die Herzen der Mütter sichtlich zu erwärmen scheint. Ihre Gesichter sind hell, die Augen strahlen. Maria Salome, auch auf einem Flügelaltar in Langenzenn dargestellt, stützt sich mit den Ellenbogen auf die Knie, was eine feine Dame damals nicht getan hätte. Das Gemälde stammt von einem Nürnberger Meister aus der Zeit um 1511, der unter dem Einfluss Dürers gestanden haben muss. Es handelt sich um höchste Qualität. Vom Ende des Lebens Jesu zeugt das Hochaltargemälde in Schlüsselau: Gottvater hält den Leichnam seines Sohnes. Das Werk war Teil eines Flügelaltars aus dem Jahr 1603, der wiederum nach einem Holzschnitt Dürers gestaltet wurde. Pfarrer Franz Nikolaus Reuß von Schlüsselau setzte sich im Jahre 1819 in einer eigenen Schrift mit diesem Hochaltargemälde auseinander. Er versuchte hauptsächlich den theologischen Hintergrund aus dem Kunstwerk herauszulesen, und zwar bewusst ohne die Malweise zu diskutieren. Er wolle sich dem Gemälde widmen, „nicht um die Meisterhand zu bekritteln, die solches gemacht hat, sondern um zu sehen, was uns der Pinsel des frommen Künstlers in diesem Bilde zur heiligen Betrachtung vorgestellt.“ Später schreibt er über die „ächte Lehre der Kirche, die Verehrung der Heiligen-Bilder betreffend“. Eine andere Richtung der Kunstwissenschaft widmet sich heute einzelnen Künstlerpersönlichkeiten, die man durch große Monographien würdigt. Dürer rangiert in diesem Zusammenhang unter den 25 „Sternstunden der Kunst“ der Menschheit, wie es eine weit verbreitete Schrift formulierte. Seine fränkischen Zeitgenossen, etwa Hans Pleydenwurff oder Michael Wolgemut, werden hier nicht erfasst, ebenso wenig die Meister, die zur selben Zeit auf dem Lande wirkten. Nach der Jahrtausendwende veränderte sich der Blickwinkel zugunsten der ländlichen Gegenden; denn die vergleichende Forschung rückte mehr als jemals zuvor in den Vordergrund. Hierzu entstand 2007 das zweibändige Werk von Robert Suckale Die Erneuerung der Malkunst vor Dürer, das in der Fachwelt Aufsehen erregte. Suckale stellte anschaulich die Verwurzelung des großen Nürnberger Meisters mit der Malerei seiner Umgebung heraus, die mit dem oben genannten Bamberger Maler Hans Pleydenwurff und Wolfgang Katzheimer eng verknüpft war. Die Arbeit Suckales beruhte auf einem an der Universität Bamberg angesiedelten Forschungsprojekt. Sie berücksichtigte zwar nicht das Gemälde der Heiligen Sippe von Schlüsselau, wohl aber einen Flügelaltar im Mainfränkischen Museum in Würzburg, der wahrscheinlich aus der Pfarrkirche des Städtchens Schlüsselfeld stammt, das ebenfalls vom Geschlecht der Schlüsselberger gegründet worden war. Der Schlüsselfelder Flügelaltar zeigt unter anderem eine „Gefangennahme Christi“: Die Gestalt des Messias geht fast unter in einer Vielzahl von Soldaten, die dicht gedrängt um ihn herumstehen. Suckale betont das Motiv des damals beliebten „Volkreichen Kalvarienbergs“, mit vielen Männern und Frauen aus dem Volk in farbenfroher Kleidung unter dem Kreuz, vor einer detailreich gezeichneten Landschaft. Ähnlich ist eine Folterung Jesu auf dem Flügelaltar in Aschbach bei Schlüsselfeld wiedergegeben, wobei hier weder das Volk noch seine Herrschaft gut wegkommt. Nach diesen Beobachtungen scheint es geboten, eine neue Frage zu stellen: Wie beurteilt man die fränkischen Flügelaltäre, nachdem man sich über die ländliche Umgebung angenähert hat? Es macht ja wohl einen gewaltigen Unterschied, ob man etwa die spätgotische Kunst aus Franken in den großen, städtischen Museen der Welt – zum Beispiel in der National Gallery in Washington – oder in Schlüsselau, beziehungsweise in Füttersee besichtigt, nachdem man die bewahrte dörfliche Umgebung erfahren hat: die Stille in und um die Kirche, die etwaige Maiandacht, die Anwesenheit der einen oder anderen Betenden – all das versetzt die Besucher unbestreitbar in eine ganz spezifische Gestimmtheit, welche die Kunstwahrnehmung beeinflusst. In der Dorfkirche von Füttersee beispielsweise lenkt kein Eintrittskartenschalter ab, keine Glasvitrine, keine installierte Beleuchtung. Man betritt einfach die Kirche, die tagsüber meist geöffnet ist und wird von der unmittelbaren Schönheit des Hochaltars ergriffen. Sehr nah und plastisch erscheinen die Figuren in ihren farbenfrohen Gewändern vor Goldhintergrund. In der meist vorherrschenden Stille der kleinen Pfarrkirche ist die Konzentration auf einzelne Kunstwerke möglich und unausweichlich. Vielleicht sind Kunstreisende von der Figur des heiligen Andreas am Hochaltar besonders beeindruckt, wenn sie vorher an der Fütterseer „Kaisereiche“ waren. Es scheint gerade so, als habe der hiesige, unbekannte Meister aus Nürnberg im ausgehenden 15. Jahrhundert auf diese „Tausendjährige Eiche“ am Ort hinweisen wollen, indem er der Heiligenfigur ... (Andreas Reuß)

Lesen Sie den vollständigen, reich bebilderten Beitrag in der Ausgabe November/Dezember von UNSER BAYERN in der BSZ Nr 46 vom 17. November 2017.

Abbildungen: Der Schrein des Flügelaltars von Beerbach zeigt im Mittelteil die Muttergottes mit Kind, seitlich die Heiligen Katharina und Barbara (rechts). Auf dem linken Flügel Anna selbdritt mit dem heiligen Joachim, rechts die Heiligen Sebastian und Georg. (Foto: Andreas Reuß) Evangelische Pfarrkirche von Gutenstetten mit Skulpturen von Veit Wirsberger aus Nürnberg, ganz rechts der heilige Nikolaus. Die Weihe des Chors erfolgte im Jahr 1500. Bei Gutenstetten handelt es sich wahrscheinlich um eine der „Slawenpfarreien“ Karls des Großen, zu deren Christianisierung gegründet. (Foto: Andreas Reuß)

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