Seit 1992 profitiert Bayerns Exportwirtschaft vom freien Warenverkehr in der EU. 2014 gingen rund 54 Prozent ihrer ausgeführten Waren in die EU. Und die Dienstleistungen? Der grenzüberschreitende Dienstleistungsverkehr in der EU kommt nicht voran, trotz Internet. Dabei gibt es seit 2006 eine EU-Dienstleistungsrichtlinie. Vor Kurzem zogen auf einer Veranstaltung in der bayerischen Vertretung in Brüssel, die von der IHK für München und Oberbayern, der Wirtschaftskammer Österreich und der EU-Kommission abgehalten wurde, bayerische Wirtschaftsvertreter eine negative Bilanz.
Lieber zuhause bleiben
Freiberufler (Architekten, Handwerker, Rechtsberater) bleiben lieber zuhause und Dienstleistungsunternehmen entsenden ihre Ingenieure lieber nicht in die Fremde. Zu viel Bürokratie, Papierkram und unterschiedliche nationale Bestimmungen halten sie ab. Und wer sich darüber informieren will, muss sie sich mühselig zusammensuchen. Dabei erwirtschaftet der Dienstleistungssektor zwei Drittel des Bruttoinlandsprodukts in der EU und bietet 90 Prozent aller Jobs. Dieses Durchschnittsmuster gilt auch für Bayern. Laut Angaben des bayerischen Landesamts für Statistik wurden 2014 im Freistaat 65 Prozent der Bruttowertschöpfung mit Dienstleistungen erwirtschaftet. Allein Informationsdienstleister trugen drei Prozent bei, freiberufliche Dienstleister wie Rechts-, Steuer- und Unternehmensberater sowie Architektur und Ingenieurbüros vier Prozent. Die bayerische Statistik erfasste leider nicht, wie viel sie im Ausland erbrachten. Genau weiß es die EU-Kommission auch nicht. Dafür ist der Sektor zu heterogen und die Unterscheidung zwischen Ware und Dienstleistung nicht immer eindeutig. Die grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen sei unterentwickelt, heißt es in der Mitteilung zur „neuen“ Binnenmarkt-Strategie, die die EU-Kommission am 28. Oktober vorgestellt hatte.
Unternehmensdienstleister (business services), also Erbringer von originären Dienstleistungen ohne Bezug auf materielle Güter wie etwa Ingenieur- und Architekturbüros und Buchprüfungskanzleien, trügen zwölf Prozent zum Bruttoinlandsprodukt der EU bei, ist in dem 109-seitigen Arbeitsdokument zur neuen Binnenmarkt-Strategie zu lesen. Doch obwohl dieser Dienstleistungsbereich immer wichtiger werde und die Industrie davon viel nachfrage, sei die Produktivität dort niedrig, insbesondere im Vergleich zu den USA. Besonders hoch seien die Handels-Hemmnisse bei Baudienstleistungen, der am meisten regulierten Branche. Der Markt für Baudienstleistungen sei unter allen Dienstleistungsbranchen am wenigsten integriert. Auslandswettbewerb finde kaum statt und die Arbeitsproduktivität sei zurückgegangen.
Aberwitzige Bürokratie
Ursula Schwarzer, zuständig für Marketing und Sales bei Sky-Skan Europe GmbH, einem kleinem Unternehmen mit sieben Beschäftigten in Seeshaupt bei München, das weltweit Planetarien baut, schilderte den Teilnehmern, vor welchen aberwitzigen bürokratischen Hindernissen mittelständische Betriebe stehen, die Dienstleistungen im EU-Land verkaufen wollen: „Wir hatten die Weltausstellung in Mailand mitgestaltet. Für unsere Mitarbeiter musste eine Entsendebescheinigung ausgestellt werden. Das stellen normalerweise die Krankenkassen aus. Davon wusste ich nichts. Auch für meinen Chef, der vor Ort war, musste eine ausgestellt werden. Aber mein Chef ist privat versichert und hat keine Rentenversicherungsnummer. Die Italiener beharrten. Es ging in letzter Minute mit einer eidesstattlichen Versicherung. Eigentlich müssten wir eine Person beschäftigen, die sich nur um die Beschaffung von Entsendeformularen kümmert; aber das können wir uns nicht leisten. Und wir haben Service-Verträge, die wir erfüllen müssen.“ Auch über die Teilnahme an öffentlichen Ausschreibungen kann Frau Schwarzer Geschichten erzählen: „Hat ein Teilnehmer einen formalen Fehler begangen, wird die ganze Ausschreibung aufgehoben und das Verfahren erneut aufgelegt mit der Folge, dass die Belege neu beschafft werden müssen, weil sie nur eine Gültigkeit von drei Monaten haben. Konzerne haben ihre eigene Rechtsabteilung für sowas.“
Die EU-Kommission kennt die Mängel aus akademischen Impactstudien, die sie in Auftrag gegeben hat, aber die Details vor Ort kennt sie nicht. „Wir brauchen mehr Beispiele wie ihre“, sagte Jürgen Tiedje, seit 1992 Referatsleiter der Unterabteilung Dienstleistungspolitik für Verbraucher in der Binnenmarktabteilung („Growth“) der EU-Kommission. „Kann ich gern liefern“, sagte Frau Schwarzer.
Ein Problem ist die Unkenntnis der Mittelständler über die Genehmigungsregeln, Entsendeformulare und Umsatzsteuerregeln in den anderen EU-Ländern. Typhaine Beaupérin-Holvoet vom europäischen Dachverband der europäischen Handelskammern, Eurochambre, forderte von der EU-Kommission, eine EU-weite Informationsplattform aufzustellen, wo sich die Dienstleister über die Regeln in den jeweiligen EU-Staaten informieren können. Sowas hat die IHK München vor. „Wir werden 2016 eine Datenbank über den Binnenmarkt anlegen“, sagte Manfred Gößl, Hauptgeschäftsführer der IHK München, der Staatszeitung.
Die EU-Kommission plant, 2016 einen Dienstleistungspass einzuführen. Dabei handelt es sich um ein Dokument, das von einer nationalen Behörde ausgestellt wird. Damit sollen grenzüberschreitend tätige Dienstleister einfacher nachweisen können, dass sie die Anforderungen erfüllen, die für sie in dem Mitgliedstaat gelten, in dem sie tätig werden wollen. Der österreichische Europaabgeordnete und Unternehmer, Paul Rübig, schlug vor, einen elektronischen Pass einzuführen. Den könne man auf seinem Handy speichern. Offensichtlich ist das nicht möglich, weil das so genannte E-Government in den EU-Ländern unterschiedlich entwickelt ist. „Elektronisch steht gerade Deutschland äußerst schlecht da,“ sagte Tiedje von der EU-Kommission. Es fehle die politische Unterstützung.
Am Meisterbrief festhalten
2016 will seine Behörde klären, wo Reformbedarf der Mitgliedstaaten bei den reglementierten Berufen ist. Davon gibt es über 5000 in der EU, in einigen Ländern sind es 400, in anderen weniger als 100. Den deutschen Handwerkermeisterbrief wolle die EU-Kommission nicht abschaffen. „Am Meisterbrief festhalten“, forderte Michael Hinterdobler, der Leiter des Brüsseler Bayern-Büros, in seiner Begrüßungsrede. Die EU-Kommission stellte klar, dass sie die reglementierten Berufe nicht liberalisieren wolle. Sie werde nur Empfehlungen geben. Weniger restriktive Vorschriften hätten positive Auswirkungen auf die Schaffungen von Arbeitsplätzen. „Wir werden uns konzentrieren auf bau- und industrienahe Dienstleistungen“, sagte Tiedje. Eine Änderung der Dienstleistungsrichtlinie sei nicht geplant. Klar sei, dass das Potenzial der Richtlinie nicht ausgeschöpft worden sei.
(Rainer Lütkehus)
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