Kultur

Die Erfahrung beim Komponieren von "The Twin Paradox" legte Schwächen des KI-Chatbots offen: So mangelt es diesem Programm beispielsweise an der nuancenreichen Instrumentierung. Ohne menschlich-kreatives Zutun kommt also (noch?) keine professionelle Komposition heraus. (Foto: Virginia Flohr)

11.10.2024

An der Kreativität hapert’s noch

Die Münchner Symphoniker demonstrieren den möglichen Schulterschluss von Komposition mit KI

In Modern Times kämpft Charlie Chaplin gegen eine monströse, allmächtige Maschine. Der Kampf ist sinnlos, weil stets neue Mittel und Techniken erfunden werden, um Arbeitsprozesse zu beschleunigen und billiger zu machen. Auch heute, rund 90 Jahre nach der Uraufführung des Filmes, bleibt das Thema virulent. Wenn von künstlicher Intelligenz (KI) gesprochen wird, ist jedenfalls die Aufregung groß. Ob Journalismus und Publizistik, bildende Kunst, Film und Musik: Allseits befürchten Menschen, von KI ersetzt zu werden. In den USA gab es bereits massive Proteste.

Da beruhigt es ein wenig, dass die Technik selber ihr Können relativiert. Im Programmheft zum jüngsten Konzert unter dem Titel Sternenweiss der Münchner Symphoniker ist ein Interview abgedruckt, in dem sich der KI-Chatbot Google Gemini selbst äußert. „Mir fehlt es an echter künstlerischer Absicht, deswegen werde ich kreatives menschliches Schaffen immer nur unterstützen, aber niemals ganz ersetzen können.“ Das säuselt die Maschine – wobei sie mit dieser Äußerung natürlich „gefüttert“ wurde.

Aktuell keine Bedrohung

Jakob Haas, Cellist bei den Münchner Symphonikern und Mitglied der Hip-Hop-Band Eins-hoch6, sieht das differenzierter. „Mir wurde schnell klar, dass das maschinelle Lernen aktuell noch keine Bedrohung für die menschliche Kreativität darstellt.“ Die Betonung liegt freilich auf „aktuell“. Und Adrian Sieber gesteht, dass es manchmal schwierig sei, dem Prozess zu vertrauen. Er ist Komponist. Mit Google Gemini haben Sieber und Haas gemeinsam das fünfsätzige Werk The Twin Paradox: A Symphonic Discourse kreiert. Die Uraufführung fand diese Woche im Münchner Prinzregententheater statt. Die Münchner Symphoniker wurden von ihrem Chef Joseph Bastian dirigiert.

Das Sujet passt zum Namen des KI-Chatbot: Gemini heißt Zwilling, und da ist es nicht weit zum Twin Paradox, hinter dem sich ein Phänomen verbirgt, das die Relativitätstheorie Albert Einsteins berührt. Demzufolge altert ein Zwilling, der durch den Weltraum düst, langsamer als sein Pendant, das auf der Erde bleibt. Mit Google Gemini wurde eine Komposition geschaffen, die ganz wesentlich mit kontrastierenden Zeitverläufen arbeitet.

Als Sprachmodell wurde Gemini im Juni 2023 freigeschaltet. Das Besondere: Es ist kein gewöhnliches KI-Programm, bei dem Melodien aus Datensätzen generiert und komponiert werden. Mit einem solchen Programm arbeiten aktuell zum Beispiel die Münchner Philharmoniker in der Brainlab-Zentrale am ehemaligen Flughafen in München-Riem. Google Gemini ist dagegen ein Feedback-Programm, das auf direktem Austausch beruht. Es wird mit Grundideen gefüttert, unterbreitet Vorschläge und reagiert auch auf Fragen – menschliches Können ist dabei zwingend erforderlich.

Das Programm selbst kann nicht Noten lesen, hat überdies Probleme, metrische und rhythmische Strukturen präzise zu setzen oder Dynamik, Intervalle und Instrumentation nuancenreich auszudifferenzieren. Der Mensch ist nicht nur Korrektiv, sondern bleibt als kreativer Entscheidungsfinder notwendig.
Beim Schaffensprozess zu Twin Paradox zeigte sich zudem, dass man auch darauf reagieren sollte, was der KI-Chatbot nicht vorschlägt. So hatte sich Gemini im dritten Satz „Timbral Transformation“ gar nicht zu den Streichern geäußert. Haas und Sieber haben also eine Musik für Bläser, Harfe und Schlagwerk geschrieben; erst kurz vor Satzende gestalten die Streicher den Übergang zum vierten Satz.

Während einer Probe war zu hören, dass das neue Werk mit sphärischen Klängen, clusterhaften Klangtrauben, filmmusikalischer Spätromantik sowie mit Kontrasten aus Konsonanz und Dissonanz arbeitet. Manches klingt nach György Ligeti, Aaron Copland oder Gustav Holst. Im Finalsatz wähnt man sich im Anfang von Also sprach Zarathustra von Richard Strauss – damit erinnert das Werk an die Musik zum Kultfilm 2001 – Odyssee im Weltraum von Stanley Kubrick. KI-Programme sind eben ziemlich konservativ. Hörenswert ist das aber allemal, und wer ein Google-Konto hat, kann selber mit Gemini arbeiten. Ohne kompositorisches Können bleibt das Ergebnis allerdings unprofessionell. (Marco Frei)

 

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