"Zeit ist das, was man an der Uhr abliest." Ja, so einfach ist es, Zeit sichtbar zu machen – folgt man Albert Einstein, ausgerechnet jenem klugen Kopf, der selbst höchst Komplexes und Kompliziertes dazu beigetragen hat, die Vorstellungen der Menschheit von der Zeit in ihren Grundannahmen auf den Kopf zu stellen. Relativität von Raum und Zeit, gekrümmte Raumzeit: Das sprengte die Dimensionen von Mathematik und Physik – vor allem auch der Vorstellungs- und Darstellungskraft.
Vorbei schien es mit dem "Fluss der Zeit", einem oft wunderschön gestalteten Bild, das die Zeit von ihrem Beginn bis zu ihrem Ende, also von der Schöpfung bis zur Apokalypse augenfällig machte.
Zwei Augen der Geschichte
Das Werden und Vergehen der Menschheit, die Zeit sichtbar machen: Das war das Metier der Chronologen, die bis zur Renaissance eine der wichtigsten akademischen Disziplinen pflegten. Zusammen mit der Geografie wurde die Chronologie gerne als die „zwei Augen der Geschichte“ gerühmt. Erstere liefert Fakten, zweitere – salopp gesagt – das Fleisch dazu, die Geschichten.
Welch einprägsame aber auch höchst wunderliche Visualisierungen von den Zeitläufen haben Chronografen über die Jahrhunderte hinweg ersonnen! Namenkolonnen Flüsse, Bäume, Mond- und Sonnenuhr, riesige Klapp- oder Wandkarten mit Textfülle, Bildsprache oder nur Linien, Zieharmonika-Kalender, Fächer, beschriftete Zollstöcke, digitale Datenbanken ...
Als Buchereignis bejubelt
Die Sicht auf Geschichte, philosophische Konzepte, Weltbilder spiegeln sich darin wieder. Natürlich haben Religionen und manch politischer Mainstream diktierend zur Seite gestanden. In seiner Chronik (viertes Jahrhundert) stellt Eusebius Aufstieg und Fall von Imperien dar, die schließlich alle unter die Herrschaft Roms gerieten – „gerade rechtzeitig, dass die frohe Botschaft des Erlösers die gesamte Menschheit erreichen konnte“, kommentieren das launig Daniel Rosenberg und Anthony Grafton.
Die beiden amerikanischen Geschichtsprofessoren (Autoren mehrerer spannend zu lesender Bücher über die Wissenschaftsgeschichte) haben sich das Thema
Die Zeit in Karten vorgenommen. Nein, es geht nicht über die Geschichte der Kartografie, sondern tatsächlich darum, welche Karten über die Zeit angefertigt wurden. Ihr reich bebildertes Kompendium erschien in deutscher Übersetzung, das englisch-sprachige Original wurde schon vor fünf Jahren als Buchereignis bejubelt.
Simples Schema finden
Ja, ein optisches Vergnügen ist der Band zweifelsohne – klar, dass sich 12 Meter lange Diagramme (1844 von Azel S. Lymann) nicht 1:1 abbilden lassen. Das muss auch nicht sein, denn hier geht es nicht darum, sich in die Inhalte zu vertiefen. Das kann man in den Bibliotheken – oft online – tun, in denen die abgebildeten Werke aufbewahrt werden. Entsprechende Link-Quellen im Abbildungsnachweis des Buches wären ein willkommener Service gewesen.
Vielmehr geht es um visuelle Lösungen. Eigentlich halten sich Rosenberg und Grafton in ihrem Abriss selbst an die große Herausforderung der Chronografie: Sich nicht in komplexen Details verzetteln, sondern destillieren, vereinfachen und ein simples Darstellungsschema finden.
Stammbaum als einprägsames Bild
Auf relativ wenigen Seiten erkennt man schnell, dass mit dem Wissen um die Welt das Problem wuchs, naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Beobachtungen zu anderen Kulturen in zeitlich korrektem Kontext zu visualisieren. Die Listen mit der Namensabfolge von Priestern oder Olympioniken, die man in der Antike führte, genügten schon bald nicht mehr. Da konnte man im oft auch künstlerisch aufwendig gestalteten Bild vom Stammbaum mit seinem ganzen Verästelungen schon wesentlich mehr Daten einpacken, vor allem die Parallelität verdeutlichen. Originell die Interpretation eines unbekannten Künstlers in der 1585 veröffentlichen
Anatomia statue Danielis von Lorenz Faust: Die prophetische Erzählung handelt vom Ende der heidnischen Reiche; darin schildert Daniel seine Traumvision von einer Statue. Dieses Bild wurde in dem ausklappbaren Holzschnitt als anatomische Metapher gestaltet: Organe und Körperteile der Statue sind historischen Ereignissen zugewiesen.
Hässliche Datenfülle
Freilich schossen viele Chronografen in ihrem Erfindungsreichtum über die Grenzen hinaus: Riesige Wandtafeln mit winziger Schrift, dicke Wälzer mit schwerer Info-Kost – die Chronologie sei „ein so trockenes, so schwieriges und undankbares Feld, dass sie dem Geist kaum mehr bietet als eine Vielzahl hässlicher Daten, die die Erinnerung überfordern und frustrieren und die man daher leicht wieder vergisst“, klagte zum Beispiel der Franzose Jacques Barbeu-Dubourg 1753.
Wenige Jahre später kam der Durchbruch mit Joseph Priestley: Der Wissenschaftler (er hat als erster den Sauerstoff und seine Wirkung beschrieben) entschlackte die Chronografie. Er blieb streng wissenschaftlich. „Meisterwerke visueller Ökonomie“, nennen die Buchautoren Priestleys Diagrammschema wie zum Beispiel in der Chart of Biography (1765): Oben und unten eine regelmäßige Datenskala, dazwischen über 2000 winzige Linien, die für die Lebensspannen berühmter Männer stehen, unten eine Liste mit wichtigen Königen seit Saulus. Das Ganze im Posterformat, wie man heute sagen würde. Ähnlich verfuhr Priestley in seiner New Chart of History (1769): Mit den farbig gestalteten Feldern erschließen sich Abfolge beziehungsweise gleichzeitiges Auftreten von Imperien nahezu intuitiv.
Diagramme wurden regelrecht Mode, sie wurden für alles mögliche erstellt, gerne für Volkszählungen, zur Ökonomie und zu Sozialem. Florence Nightingale zum Beispiel erstellte eines über die Sterblichkeit der Zivilbevölkerung und des Militärs während des Krimkrieges: Infektionen und Krankheiten waren tödlicher als Kugeln und Bajonette.
Die Industrialisierung verändert auch die Chronografie: Der Takt der Zeit schien schneller zu schlagen, wurde vor allem immer exakter aufgezeichnet. die Zeitmessung ging in grafischen Darstellungen ein – Zeitpläne tauchten plötzlich überall auf. Zunehmend gelang das Vernetzen von Daten auf der ganzen Welt. Markant die Kommunikationsdiagramme, die den Funkverkehr beim Untergang der Titanic minutiös und positionsgenau darstellen.
Das Ich und die Zeit
Chronografie begegnet uns heute überall, eine Geheimwissenschaft ist sie schon längst nicht mehr: In Nullkommanichts lassen sich am heimischen PC Diagramme erstellen – für die Heizkostenabrechnung genauso wie fürs Taschengeld der Kinder. Einschlägige Programme gibts zuhauf. Und wie gebannt wird das Auf und ab von Börsendaten verfolgt.
Zeitdilatation, dann Relativitätstheorie: Das Bewusstsein von Zeit hat sich vor etwas über 100 Jahren radikal verändert: Die Uhren scheinen für jeden anders zu ticken. Natürlich gibt es auch dazu chronografische Lösungen, etwa das Minkowski-Diagramm.
Zugleich haben sich Künstler des Themas angenommen, loten die mehrdimensionale Bewusstseinswahrnehmung aus. Die chronografische Geste ist in vielen zeitgenössischen Kunstwerken zu beobachten. Beispielhaft sei an On Kawaras die Date paintings erinnert, die das Verstreichen von Zeit darstellen wollen: „eine Art Meditation, eine Übung, die nützlich ist, um sein Ich zu verlieren“, wie der Künstler 2005 in einer Kunstzeitschrift zitiert wurde. Seine Echtzeit-Gemälde zeigen plakativ die Abhängigkeit von Ich und Zeit.
Und auch, dass die überbordende Datenmenge aus einer Vielzahl von Quellen beherrschbar nur mit Indexierungssystemen sein kann – in denen die Zeit ein wichtiger organisatorischer Parameter ist. (
Karin Dütsch)
Daniel Rosenberg, Anthony Grafton, Die Zeit in Karten,Verlag Philipp von Zabern, 2015. 304 Seiten, über 300 Abbildungen, 79,95 Euro. ISBN 978-3-8053-4936-9
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