Bürger*innen dürfen sich verbal wehren, wenn ihnen was gegen den Strich geht. Schließlich gibt es das grundgesetzlich verbürgte Recht auf freie Meinungsäußerung. Wie steht es inzwischen um dieses Recht? Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels organisiert dazu vom 3. bis 10. Mai die Woche der Meinungsfreiheit mit diversen Aktionen. Die BSZ hat sich im Vorfeld umgehört.
Demokratie bedeutet, dass sich Menschen selbstverständlich gegen ein Vorgehen stemmen dürfen, wenn sie denken, da macht der Staat etwas nicht richtig. Während der Corona-Krise etwa wandte sich ein Teil der Bürger*innen gegen allzu dirigistische Maßnahmen. Diese als „Querdenker“ abgestempelten Protestierenden machten die Erfahrung massiven Bashings.
Wie konnte es dazu kommen, wenn es hierzulande doch jedem freisteht, seine Meinung zu äußern? Das fragen sich Tom Ulherr und Andreas Kaeser vom maßnahmenkritischen Team Menschenrechte Nürnberg. In einer Demokratie sollten alle Streitfragen öffentlich und kontrovers ausgetragen werden, meinen die beiden Aktivisten. Dies sei leider keineswegs mehr die Regel. Dass Streit inzwischen als schlechter politischer Stil angesehen wird, treibt die beiden Nürnberger um. „In den Parlamenten beschädigt die Fraktionsdisziplin seit Langem die Debattenkultur“, sagen sie.
Ein Verfall sei jedoch bereits vor der Corona-Krise zu beobachten gewesen: „Einen ersten Tiefpunkt markiert der völkerrechtswidrige Jugoslawienkrieg, mit Lügen und massiver Beeinträchtigung der Meinungsvielfalt.“ Die beiden Nürnberger heben darauf ab, dass die Vorbereitung auf die deutsche Beteiligung beim Angriff auf Jugoslawien, wie man heute weiß, von gezielten Falschmeldungen begleitet war. Davon erzählt zum Beispiel auch der WDR-Film Es begann mit einer Lüge aus dem Jahr 2001. Mit dem „War on Terror“ nach dem 11. September sei es weitergegangen. Stetig sei der Diskursraum verkleinert worden.
Weil dem so ist, erscheint es immer mehr Menschen sinnlos, donnerstagsabends Maybrit Illner, montags Hart aber fair oder andere Talkshows einzuschalten. Tom Ulherr und Andreas Kaeser können das nachvollziehen. Die Medien haben sich nach ihrer Einschätzung immer mehr von einer differenzierten Argumentation verabschiedet: „Moralisierendes Urteilen in Gut-Böse-Schablonen ist inzwischen Usus.“ Eben dies wirke auf das private Umfeld zurück. „Wer miterlebt, wie hochqualifizierte Menschen wie Sahra Wagenknecht, Ulrike Guérot oder Gabriele Krone-Schmalz behandelt werden, überlegt es sich zweimal, ehe er seine abweichende Meinung kundtut.“
Man muss nicht Professorin wie Ulrike Guérot sein, um das Recht zu haben, mitzureden. Wobei es weniger profilierte Menschen noch schwerer haben, Abweichendes zu artikulieren. Weshalb sie noch eher verstummen. Viele Leute, vermuten Tom Ulherr und Andreas Kaeser, haben sich inzwischen damit abgefunden, dass abweichende Meinungen „verboten“ seien. Oder zumindest sanktioniert würden: „Wer will schon seinen Arbeitsplatz oder seine Stellung im Kreis der Freunde, Kollegen oder der Familie riskieren?“
Abweichende Meinungen muss man aushalten
Historisch gesehen war die Paulskirchenverfassung von 1849 wegweisend für das Grundrecht auf Meinungsfreiheit – auch wenn sie nie in Kraft trat. „Jeder Deutsche hat das Recht, durch Wort, Schrift, Druck und bildliche Darstellung seine Meinung frei zu äußern“, hieß es damals. Damit wurde erstmals in der deutschen Verfassungsgeschichte die Meinungsfreiheit vorbehaltlos garantiert.
Inzwischen besteht allerdings ein Streit darüber, ob sich das Meinungsklima in Deutschland gewandelt habe. Dies konstatiert auch eine Studie des Wissenschaftlichen Dienstes des Europäischen Parlaments zur Freiheit der Meinungsäußerung in Deutschland vom Oktober 2019. Selbst Comedians sind inzwischen vorsichtig damit, was sie vom Stapel lassen. Wobei es Berufsgruppen gibt, die noch viel zurückhaltender mit Meinungsäußerungen sind.
Klar ist, dass Leute, die verbal angegriffen werden, oft mit einer Retourkutsche reagieren. Das muss man aushalten. „Doch wenige wollen noch anecken, Konflikte werden nicht ausgetragen“, beobachtet Andi Hefter, die beim Stadtjugendring Aschaffenburg für das Themenfeld Partizipation zuständig ist. Sie selbst hat allerdings nicht den Eindruck, dass sie ihre Meinung nicht sagen darf. Andi Hefter ist politisch gebildet, sie ist selbstsicher und hat keine Angst davor, anzuecken: „Ich kann damit umgehen, dass andere Menschen nicht die gleiche Einstellung haben, und ich bin streitbar.“
Streitbar ist auch Michael Kraus, Vorstandsmitglied des Bundes für Geistesfreiheit in Schweinfurt. Allerdings kommt er aufgrund seiner Beobachtungen zu anderen Schlüssen als Andi Hefter: „Ich beobachte eine starke Verengung des politischen Spektrums seit der Euro-Diskussion Ende der 2000er-Jahre.“ Während man in den 1960er-Jahren bei politischer Grundsatzkritik in der Linksaußen-Ecke landete, werde man nun „in die Rechtsaußen-Ecke geschoben“.
Menschen mit abweichender Meinung erscheint es heute mitunter so, als wollte man die ganze Bevölkerung in ein System zwängen. Und wer sich in dieses System nicht hineinzwängen lässt, muss mit Konsequenzen rechnen. Michael Kraus bestätigt diesen Eindruck. „Anstelle inhaltlicher Debatten wird mit existenzvernichtenden Diffamierungen, Zensur, Unterdrückung der Versammlungsfreiheit und politischen Prozessen gegen Oppositionelle agiert“, sagt er.
Dem Schweinfurter ist vollauf bewusst, dass er sich mit dieser Meinungsäußerung selbst angreifbar macht: „Doch das sind keine Verschwörungstheorien.“ Er kann Beweise herbeibringen. „Die Otto-Brenner-Stiftung der IG Metall zum Beispiel hat in mehreren Studien die Gleichrichtung der Medien belegt, etwa bei den Themen Zuwanderung und Corona.“ Außerdem belege eine Untersuchung des Instituts für Demoskopie in Allensbach, dass die Angst der Deutschen vor der freien Meinungsäußerung noch nie so groß gewesen ist wie dieser Tage.
Vorauseilender Gehorsam verhindert Offenheit häufig
Michael Kraus selbst hat während der Corona-Krise bei seinem damaligen Arbeitgeber extrem schlechte Erfahrungen gemacht, als er seine Meinung frei äußerte. Inzwischen hat er einen anderen Job. Wer möchte schon den Boden unter den Füßen verlieren. „Die Menschen beobachten genau die Verengung des politischen Meinungsklimas in der Öffentlichkeit“, sagt der Politologe. Dieses Meinungsklima sei repressiv geworden: „Und das Abstrafen von Personen mit abweichender Meinung sorgt dafür, dass die Menschen im vorauseilenden Gehorsam lieber nicht mehr ihre Meinung sagen.“
Menschen aus den neuen Bundesländern, die die SED-Diktatur noch erlebten, sagten ihm: „Ich fühle mich wieder wie damals. Unterhalb einer vermeintlich pluralistischen Fassade herrscht ein autoritäres Regime. Es verbreitet ständig seine Parolen und duldet keinen Widerspruch.“
Er habe in der DDR gesehen, was aus einer Gesellschaft wird, wenn nicht alles offen diskutiert werden kann, sagt Michael Meyen, Medienforscher an der Uni München. Für ihn gehören prinzipiell „alle Themen und alle Perspektiven auf die große Bühne“: „Und zwar so, dass die Menschen nicht bevormundet werden und sich selbst eine Meinung bilden können.“ Wird der Abstand zu diesem Ideal zu groß, müsse und werde er sich dazu äußern, betont der als „umstritten“ geframte Professor: „Dafür werde ich schließlich von der Allgemeinheit finanziert.“ (Pat Christ)
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