Politik

Instrumente wie die E-Akte sollen die Modernisierung der Justiz vorantreiben. (Foto: dpa/Pleul)

21.06.2024

Instagram statt verstaubte Akten

Die Justiz will sich umfassend digitalisieren, transparenter werden und KI einsetzen

Es ist nun fünf Jahre her, dass der Präsident des Oberlandesgerichts (OLG) in Nürnberg, Thomas Dickert, bei einer Jahreskonferenz der Oberlandesgerichte einige Vorschläge zur Modernisierung des Zivilprozesses machte. Sein Diskussionspapier habe „einigen Wirbel ausgelöst“, erinnert er sich. Damals seien noch einige Richter skeptisch gewesen. Nach Corona und aufgrund des Drucks zur Veränderung sei heute jedoch allen klar, dass die Justiz digitaler werden muss und dazu seien Reformen der Technik und des Prozessrechts notwendig. „Die Bedenkenträger werden weniger.“

Onlineverfahren, Videoverhandlungen und ein digitales Justizportal

Faxe seien weitgehend abgeschafft, die elektronische Akte sei in Bayern flächendeckend eingeführt. „Aber das reicht noch nicht. Wir müssen die Digitalisierung nutzen, um schneller zu werden.“ Dickert beklagt: „Wir verschicken immer noch PDFs und telefonieren, um Termine zu vereinbaren.“ Er wünsche sich ein System, das wie Whatsapp funktioniere und mit dem sich Beteiligte eines Verfahrens in Echtzeit austauschen. Gemeinsam sollten sie an einer Akte arbeiten.

„Zivilprozess der Zukunft“ – unter diesem Titel beraten Gerichte der Länder und des Bundes seit Jahren Reformen. Die Beratungen scheinen nun in eine entscheidende Phase zu kommen. Bis November wollen mehrere Arbeitsgruppen festlegen, welche Reformen der Zivilprozessordnung nötig sind für eine umfassende Digitalisierung. Es geht um beschleunigte Onlineverfahren, Videoverhandlungen und ein digitales Justizportal für alle Bürger*innen – ähnlich wie Elster bei Steuern. Der Zugang zum Recht soll einfacher werden.

Rechtsdienstleister sorgen mit Klagen für teils aufwendige Verfahren

Sprachlich durchzieht die Vorschläge und Diskussionspapiere das Bemühen um mehr Bürgerfreundlichkeit und Transparenz. Videodokumentation und Tonaufnahmen sollen – anders als bisher – ausführliche Protokolle ermöglichen. Für Videoverhandlungen hat der Bund bereits ein Gesetz beschlossen; ein Justizportal ist freigeschaltet. Bund und Länder sollen weitere Reformen beschließen.

Beteiligt sind Oberlandesgerichte, das Kammergericht in Berlin, das Bayerische Oberste Landesgericht und der Bundesgerichtshof. Zu Tagungen im März und Mai kamen 100 Richter*innen, Anwält*innen und Wissenschaftler*innen aus dem In- und Ausland, um Lösungen zu diskutieren. Deutschland hinke gegenüber anderen Ländern teilweise zehn bis 15 Jahre hinterher, was die Modernisierung der Verfahren betreffe, heißt es in einem Diskussionspapier. 

Gerichte verzeichnen laut Studien einen Rückgang an Zivilfällen von bis zu 40 Prozent und fürchten, Bürger*innen könnten das Vertrauen in den Rechtsstaat verlieren, weil Verfahren zu umständlich sind und zu lange dauern. Demgegenüber stünde eine deutlich steigende Zahl von Massenverfahren, etwa Fluggastverfahren aufgrund neuer Rechte und kommerzieller Websites, die solche Anträge einfach machen.

Beim Amtsgericht Erding, das für den Flughafen München zuständig ist, lag die Zahl der Zivilverfahren 2023 bei 11.688, davon waren 10.969 sogenannte Fluggastrechtesachen. Das entspreche einer Belastung der Zivilrichter*innen von 223 Prozent, also mehr als dem Doppelten des eigentlichen Arbeitspensums, sagt Sprecher Markus Nikol. Es fehlten dem Amtsgericht 25 Mitarbeiter*innen und zwölf Richter*innen. Dieser Trend setze sich 2024 fort. Die Klagen würden von Rechtsdienstleistern wie flightright betrieben, müssten aber teilweise in aufwendigen Verfahren geklärt werden.

KI-Assistenz für Gerichte ist bundesweit in der Erprobungsphase

Auch am Amtsgericht Nürnberg haben Fluggastklagen in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen, sagt Pressesprecherin Tina Haase. Waren 2021 von 6435 Eingängen 861 Fluggastklagen, so waren es 2023 bereits 4031 der 9834 Klagen, also 40 Prozent. 17 Richter*innen seien inzwischen mit Fluggastrechteverfahren – neben anderen Zivilsachen – befasst; ohne KI, da noch keine Software zur Verfügung stehe. KI-Assistenz für Gerichte sei bundesweit in der Erprobungsphase; in Bayern am Amtsgericht Erding. KI analysiert Schriftsätze, liest Metadaten aus und schlägt Textbausteine für Urteile vor.

Der bayerische Justizminister Georg Eisenreich sagt auf Anfrage: „Videoverhandlungen im Zivilverfahren gehören in Bayern längst zum Gerichtsalltag. Etwa 13.000 Videoverhandlungen und -anhörungen gab es allein im vergangenen Jahr im Freistaat. Die Menschen erwarten zu Recht eine moderne Justiz.“ Alle 99 Gerichte in Bayern verfügten über eine Videokonferenzanlage. Dennoch dringt er auf „mehr Tempo“ bei der Digitalisierung: „Der bestehende gesetzliche Rahmen ist noch viel zu oft ein Hemmschuh und muss durch den Bund an vielen Stellen modernisiert werden.“ Er setze hohe Erwartungen in die von ihm initiierte Bund-Länder-Kommission, die im Juli ihre Arbeit aufnehme.

OLG-Präsident Thomas Dickert betont, die Veröffentlichung von Urteilen sei laut Bundesverwaltungsgericht und Bundesverfassungsgericht eine grundlegende Aufgabe der Gerichte. Tatsächlich lägen die Quoten jedoch bei etwa einem Prozent. Gerichte kämen ihrer Pflicht nicht ausreichend nach, etwa weil sie Forderungen für Anonymisierung wegen Personalmangels nicht bewältigen könnten. Dickert sagt, eigentlich müsste jedes Urteil und jeder wichtige Beschluss öffentlich sein. „Die Urteile gehören nicht den Gerichten, sondern dem Volk.“

Eigentlich müsste jedes Urteil und jeder wichtige Beschluss öffentlich sein

Ein Forschungsprojekt mit der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg zielt darauf, eine größere Anzahl von Urteilen automatisiert veröffentlichen zu können. Bei der Veröffentlichung geht es allerdings offenbar nicht vorrangig um Transparenz, sondern um Grundlagen für das Funktionieren von KI. Justizminister Eisenreich sagt: „Wir brauchen für Legal-Tech- und KI-Anwendungen ausreichend Daten. Wir werden dazu einen Beitrag leisten und in den nächsten drei Jahren mindestens 50.000 Entscheidungen aus der bayerischen Justiz anonymisieren und veröffentlichen.“ 

Bei der Tagung im Mai in München kamen die Präsident*innen der Oberlandesgerichte auch überein, dass Gerichte mehr in den sozialen Medien präsent sein sollen, um Zugänge zum Recht auf Instagram oder Tiktok zu erklären. Erst rund ein Drittel der 24 Oberlandesgerichte bundesweit arbeite heute mit Instagram, sagte die Präsidentin des OLG Celle, Stefanie Otte. Sie sprach „von einem gewissen Dilemma“. Die zentrale Frage sei: „Was ist machbar in der kurzen Aufmerksamkeitsspanne?“ Denn: „Keiner von uns will auf Tiktok tanzen.“ (Thomas Schuler)
 

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