Politik

Die Welt-Aids-Konferenz wird seit 1985 von der International Aids Society veranstaltet. Diesmal war München Ausrichter. (Foto: dpa/Karl-Josef Hildenbrand)

26.07.2024

„Tausende wissen nichts von ihrer Infektion“

Der Münchner Psychologe Stefan Zippel über die noch immer hohe Zahl an HIV-Neuinfektionen, fehlendes Wissen von Jugendlichen und Forderungen an die Politik

In München ging jetzt die weltgrößte Konferenz für HIV und Aids zu Ende. Warum stecken sich auch in Deutschland noch immer Menschen an? Wir sprachen mit dem Psychologen Stefan Zippel, der als Leiter einer psychosozialen Beratungsstelle an der Uni München seit vielen Jahren HIV-Infizierte betreut. Daneben klärt er bayerische Schüler*innen über das Thema auf.

BSZ: Herr Zippel, es gibt für HIV-Infizierte heutzutage wirksame Medikamente. Warum sind Aids und HIV dann noch ein Problem?
Stefan Zippel: Weil sich immer noch Menschen anstecken und weil die HIV-Infektion immer noch eine tödlich verlaufende Infektionserkrankung sein kann, wenn Menschen nicht behandelt werden. Da auch in Deutschland die Diskriminierung von HIV-Infizierten immer noch gang und gäbe ist, lassen sich viele nicht testen. Und so wissen nach den neuesten Studien über 8000 Menschen hierzulande nicht, dass sie infiziert sind. Das hat zur Folge, dass sie unwissentlich die HIV-Infektion weitergeben, weil sie ansteckend sind. Dazu können sie auch krank werden und tatsächlich an den Folgen von Aids sterben – obwohl es bei uns die Medikamente gäbe, das zu verhindern.

BSZ: Inwiefern werden HIV-Infizierte in Deutschland diskriminiert?
Zippel: Sie müssen nur sagen: Ich bin HIV-infiziert – und schon werden Sie sozial ausgegrenzt. Dabei ist man nicht mehr ansteckend, wenn man in Therapie ist. Wer die entsprechenden Medikamente einnimmt, kann die Viruslast auf null senken. Dann kann man auch ungeschützt Sex haben. Die Diskriminierung erleben Infizierte leider auch im medizinischen Bereich. Da werden sie in der Arztpraxis oft erst ganz am Ende drangenommen, weil immer noch die irrationalen Ängste vorhanden sind, dass man sich durch persönlichen Kontakt anstecken könnte. Dabei wissen wir definitiv, dass das nicht möglich ist.

BSZ: In mehreren Ländern ist die Krankheit seit einiger Zeit wieder auf dem Vormarsch – auch weil zum Teil gegen Risikogruppen wie queere Menschen oder Drogenabhängige gehetzt wird.
Zippel: Ja, in diesen Ländern, vor allem in Osteuropa, wird dann zum Teil überhaupt nicht mehr getestet. Und deswegen nehmen die Zahlen dort erschreckend zu. Wir haben gerade aktuelle Daten von der Welt-Aids-Konferenz bekommen: Der Anstieg ist viel zu stark.

BSZ: Wie groß ist in dem Zusammenhang Ihre Sorge, wenn Sie etwa in die USA blicken, wo Donald Trump angekündigt hat, im Fall seiner Wahl zum Präsidenten Schutzrechte für queere Menschen zurückzunehmen?
Zippel: Da muss einem schon angst und bange werden. Aber ich blicke mit noch größerer Angst nach Osteuropa. Da sind die Zahlen wirklich drastisch am Steigen.

BSZ: Wie zuversichtlich sind Sie da, dass das UN-Ziel, die Immunschwächekrankheit bis 2030 zu besiegen, erreicht wird?
Zippel: Die UN haben das Ziel schon wieder kassiert. Es ist ziemlich klar, dass das weltweit gesehen nicht funktionieren wird.

BSZ: Und in Deutschland?
Zippel: Da würden wir es gerade so schaffen – aber nur, wenn nichts dazwischenkommt. In Deutschland gibt es einen Anstieg der Infektionen bei den Drogenabhängigen und bei den Heterosexuellen – das sind zwei Gruppen, bei denen es ein deutlich weniger ausgeprägtes Problembewusstsein gibt als bei der in Deutschland am stärksten betroffenen Gruppe: den Männern, die mit anderen Männern Sex haben. Die sind gut informiert und nehmen vor dem Sex oft auch Medikamente, einer so genannte Präexpositionsprophylaxe, um sich nicht anzustecken. Aber selbst bei homosexuellen Männern gibt es Neuinfektionen.

BSZ: Vor einigen Jahren konnte man bei uns den Plakaten und Werbespots gegen Aids und HIV kaum entkommen. Warum ist davon heute kaum mehr was zu sehen?
Zippel: Die Kampagne der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung wurde leider ganz massiv zurückgefahren. Ich erlebe selbst in meinen Vorlesungen, dass das Wissen der Jugendlichen zu Aids nicht mehr so gut ist wie vor fünf Jahren. Dabei entdeckt jedes Jahr eine neue Generation ihre Sexualität. Und wenn die dabei nicht richtig aufgeklärt wird, nimmt das Risiko einer Ansteckung zu.

BSZ: Sie betreiben ja seit Jahrzehnten an Schulen Aufklärungsarbeit. Was ist dabei besonders auffällig?
Zippel: Es gibt sehr viel Nichtwissen. Über HIV wissen sie noch vergleichsweise gut Bescheid. Bei anderen sexuell übertragbaren Krankheiten wie Syphilis, Gonorrhö, Chlamydieninfektionen ist bei der Hälfte überhaupt kein Wissen vorhanden. Bei Humanen Papillomviren, die immerhin verantwortlich für mehrere Krebserkrankungen sind, sind es sogar zwei Drittel. Da fängt man bei der Vermittlung quasi bei null an. Dabei denken die Jugendlichen ja, sie wüssten über Sexualität Bescheid. Doch wenn man ein bisschen nachfragt, merkt man, dass es an vielem mangelt.

BSZ: Aber kommen Jugendliche heute nicht viel früher mit Sexualität in Kontakt?
Zippel: Das schon. Aber es redet keiner mit ihnen vernünftig darüber. Heute schauen teilweise schon Zehn-, Elfjährige allein Pornos an. Man müsste ihnen sagen: Ein Porno dient der Erregung, hat aber mit der Realität gar nichts zu tun. Wenn ihr euch so in der Realität verhalten würdet, würdet ihr auf die Nase fallen. In der Pubertät wollen die Jugendlichen aber nicht mit ihren Eltern darüber sprechen. Bliebe als wirklich gute Informationsquelle die Schule. Aber in einer Gesellschaft, in der 20 Prozent eine rechtsextreme Partei wählen, die plärrt, dass Frühsexualisierung des Teufels ist, würde ich mir als Lehrer gut überlegen, ob ich über dieses Thema rede. Tatsächlich setzen viele Schulen die Sexualität ans Ende des Schuljahrs, nach dem Motto: Wenn wir Glück haben, können wir drüber reden, wenn nicht, war es leider nicht mehr möglich.

BSZ: Was würden Sie sich denn wünschen?
Zippel: Es braucht mehr Geld für die Aufklärung. Wir stecken wahnsinnig viel Geld in Medikamente für HIV. Das ist auch wichtig, eine Präexpositionsprophylaxe verhindert viele Neuinfektionen. Aber wir müssen genauso viel Geld in die Prävention stecken – einerseits für mehr Akzeptanz queerer Menschen, andererseits für mehr Aufklärung über Sexualität. Wenn wir da nicht mehr machen, werden wir den Preis in Form von mehr Neuinfektionen zahlen.

BSZ: In München fand diese Woche die Welt-Aids-Konferenz statt. Welchen Effekt erhoffen Sie sich davon?
Zippel: Eine stärkere Sensibilität und mehr Aufmerksamkeit für das Thema – und das ist ja schon passiert. Es wurde vielfach berichtet, dass wir zwar medizinisch viele Erfolge feiern konnten, aber dass die Diskriminierung inzwischen das größte Problem ist. Und da muss sich gesellschaftlich noch einiges ändern. (Interview: Thorsten Stark)

(kleines Foto: Jens Hartmann)
 

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