Bauen

Ansicht der Münchner Borstei von der Voitstraße aus. (Foto: Kaija Voss)

20.11.2020

Eine Stadt in der Stadt

Die Borstei – eine kultivierte Wohnsiedlung in München

Wohl jeder kennt sie, zumindest vom Sehen: Fährt man in München den Mittleren Ring vom Olympiapark aus stadteinwärts, erhebt sich auf der rechten Seite ein langes dunkelgelbes Bauwerk. Ein beeindruckender geschlossener Komplex, vier Stockwerke hoch, mit Satteldach. Kaum vorbeigefahren, ist man schon im Landshuter-Allee-Tunnel und das Bauwerk – die Borstei – aus dem Blick. Doch lohnt es sich, einmal direkt in die Dachauer Straße und von hier in die Pickelstraße einzubiegen, um eine kleine Zeitreise in die Borstei zu unternehmen. Auf einem der Giebel steht: „Borstei – Die kultivierte Wohnsiedlung“.

Der Name der von 1924 bis 1929 erbauten und heute denkmalgeschützten Wohnanlage in München-Moosach geht auf ihren Begründer Bernhard Borst (1883 bis 1963) zurück. Der in Offenburg geborene Architekt und Bauunternehmer wollte zunächst auf dem an der Dachauer Straße gelegenen Grundstück seinen Bauhof einrichten. Aufgrund der Wohnungsnot in München zwischen beiden Weltkriegen entschloss er sich jedoch, Wohnungen, ergänzt durch eine damals ziemlich moderne Infrastruktur mit Läden, Gärten und einer Wäscherei, zu bauen. Er wollte damit sein Wohnideal realisieren. Wie er selbst schrieb, versuchte er: „Das Schöne des Einfamilienhauses mit dem Praktischen einer Etagenwohnung zu verbinden. Dabei wollte ich alles auf die Entlastung der Hausfrau und auf die Gesundheit der Menschen abstimmen.“

1928 war die Wohnanlage fast fertiggestellt, ein Preisausschreiben sollte zur Namensfindung beitragen. Es gab über 2600 Einsendungen, es fielen Begriffe wie „Paradies“, „Borsts Wohnautomat“ oder auch „Borstelysium“. Mehrmals wurde der Begriff „Borstei“ eingereicht, in Anlehnung an die Augsburger Fuggerei von 1521, und dieser Name setzte sich durch.

Auch wenn die Borstei keinen konfessionellen Hintergrund hat und eben nicht für bedürftige katholische Mitbürger, sondern für den gehobenen Mittelstand gedacht war, so gibt es doch gewisse Parallelen. Beide Siedlungen bilden eine Art „Stadt in der Stadt“, beide waren durch Tore von der Umgebung abgeschlossen und die Bewohner bilden eine ganz besondere Gemeinschaft.

Keine Experimente
bei den Baumaterialien

Die Tore in der Borstei gibt es heute nicht mehr und auch nicht den Nachtwächter, der jeden Abend auf Kontrollgang war. Die Gemeinschaft ist bis heute erhalten, vielleicht nicht mehr so intensiv wie zu Bernhard Borsts Zeiten. Es gibt gemeinsame Feste und Veranstaltungen, vom Sommerfest zum Adventsfensterln, es gibt das Ostereiersuchen für Kinder und alle sieben Jahre tanzen hier die Schäffler.

Bernhard Borst schrieb über seine Jugend, dass er ein „kleiner kränklicher Junge mit Sehnsucht nach dem Schönen“ war und erst mit vier Jahren laufen lernte. Nach seinen traurigen Erfahrungen wollte er die Kinder in der Borstei mit besonders schönen Erlebnissen erfreuen. So kam auch das „Borstei-Kasperl“ in die Anlage: Geht man durch den Haupteingang, von der Dachauer in die Franz-Marc-Straße, gibt es rechts ein rundbogiges Türchen. Dahinter verbarg sich eine bunte Kasperlpuppe. War die Tür geöffnet, war am selben Tag Marionettentheater in der Borstei. Der Kasper wurde 2018 als Bayerischer Heimatschatz prämiert und steht derzeit im Borsteimuseum. Ist heute das gelbe Türchen geöffnet, verweist es noch immer auf besondere Veranstaltungen, der Kasper ist – zumindest als Bild – dort geblieben.

Obwohl das 1928 entstandene zentrale Heizkraftwerk das erste seiner Art für den Wohnungsbau war und auch die Grundrisse der Borstei eher rational sind, gab sich Borst an anderer Stelle, nämlich bezüglich der Baumaterialien und der Fassadengestaltung, keinen modernen Experimenten hin. Die Fassaden sind traditionell, viele Türen sind von Rundbögen mit Ziergittern bekrönt. Satteldächer und Sprossenfenster mit Fensterläden prägen die Häuser, die um große grüne Wohnhöfe gruppiert sind.

Borst bestand auf qualitativ hochwertigem, solidem und baumeisterlichem Bauen. Wertige Materialien hatten für ihn Priorität, so setzte er für die Gehsteige Hartbrandsteine anstelle vorgeschriebener Zementplatten durch, ebenso verwendete er viele einheimische Materialien. Borst arbeitete zusammen mit Oswald Bieber, er ist der zweite Architekt der Borstei. In München stehen von ihm zum Beispiel das Verwaltungsgebäude der Münchner Rückversicherung (1911 bis 1913) am Englischen Garten oder das Dienstgebäude des evangelischen Landeskirchenamts in der Katharina-von-Bora-Straße (1928/29).

Gartenhöfe in
der Wohnanlage

Über seine eigenen Bauten hinaus verfolgte Borst das Baugeschehen mit großem Interesse. Das zeigt auch seine Anfrage an den Stadtrat von Stuttgart 1953: „Sehr geehrte Herren! Sie haben im Jahre 1927/28 ein Experiment: „Die Weißenhofsiedlung“ gemacht, bei der Gropius und Corbusier beteiligt waren. Ich bitte Sie nun, nach fast 26 Jahren, mir das Ergebnis dieses Experiments mitteilen zu wollen. Ist die Bewohnbarkeit der Siedlung zufriedenstellend usw.?“

Die prompte Antwort mag Borst kaum überrascht haben, besagte sie doch, dass es in der Weißenhofsiedlung zunächst konstruktive Mängel gab, die „mit hohen finanziellen Aufwendungen“ beseitigt werden mussten und dass der Unterhalt der Bauten höher sei, als bei traditionell errichteten Bauten. Die Grundrisse erwiesen sich der Aussage nach jedoch als gut, bis auf den des Hauses von Le Corbusier, das heute Unesco-Welterbe ist. Mit diesem waren die Bewohner nicht zufrieden und ließen es umbauen, offenbar war es zu modern.

Bernhard Borst organisierte 1928/29 für die Borstei eine Ausstellung beispielhafter Wohnungseinrichtungen. Insgesamt 13 Architekten stellten hier Musterwohnungen aus, die unter anderem von den Deutschen Werkstätten realisiert wurden. Für die Gartenhöfe seiner Wohnanlage, die bis heute im Familienbesitz sind, kaufte Borst Kunstwerke an und unterstützte so viele Künstler. Seinen Sarkophag entwarf er teilweise selbst für eine Grabstätte auf dem Westfriedhof. Die Friedhofsordnung ließ das Aufstellen nicht zu, so kam er in den „Garten der Ruhe“ in der Borstei. Zwei Löwen des Künstlers Bernhard Bleeker tragen den Kenotaph, der von zwei Medaillons mit dem Profil von Borst und seiner Ehefrau Erna geschmückt ist.

Insgesamt sind über 70 Plastiken, Skulpturen oder Reliefs in den Borsteigärten zu bewundern, vom hl. Christophorus als Schutzpatron der Autofahrer, der vor den Garagen steht, bis zur Pallas Athena, die als Göttin der Weisheit einen bronzenen Borstei-Lageplan in den Händen trägt.

Momentan ist das kleine Borsteimuseum zum Schutz vor der Ausbreitung des Coronavirus geschlossen, die Webseite www.borstei.de beantwortet aber alle Fragen und bietet einen umfassenden Einblick in die Geschichte und das Leben in der Borstei. Wundervoll mit aktuellen und historischen Bildern illustriert ist sie die perfekte Vor- und Nachbereitung für jeden interessierten Besuch. (Kaija Voss)

(Auf dem Giebel der Siedlung steht: „Borstei – Die kultivierte Wohnsiedlung“. Im Garten der Ruhe befindet sich der Kenotaph zur Erinnerung an Bernhard Borst - Fotos: Kaija Voss)

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