Die König-Ludwig-Brücke, die in Kempten in 30 Metern Höhe über die Iller führt, ist historisches Kulturgut. Die zwischen 1847 und 1851 gebaute und am 1. April 1852 eröffnete, dreifeldrige, 120 Meter lange – und bis 1905 durch die Bahn genutzte – Fachwerkbrücke ist die älteste Holz-Eisenbahnbrücke Europas, die noch weitgehend im Originalzustand erhalten ist. Seit 2012 trägt sie den von der Bundesingenieurkammer verliehenen Titel „Historisches Wahrzeichen der Ingenieurbaukunst in Deutschland“ und befindet sich damit unter anderem in Gesellschaft mit dem Stuttgarter Fernsehturm, dem Flughafen Berlin-Tempelhof oder dem
Alten Elbtunnel in Hamburg. Seit 2007 erhielten 22 Bauwerke in Deutschland diese Auszeichnung. Als vorerst letzte wurde der Ludwig-Donau-Main Kanal, wie die Kemptener Brücke ein Bauwerk aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, mit diesem Titel im Juli 2018 ausgezeichnet.
Die industrielle Revolution machte die Eisenbahn zu Beginn des 19. Jahrhunderts in ganz Europa zum wichtigsten Transportmittel.
Mit der Gründung der „Königlichen Eisenbahn-Kommission zu Nürnberg“ im Jahr 1841 war in Bayern der Startschuss für den großräumigen Eisenbahnverkehr gefallen. Die sogenannte Ludwig-Süd-Nord-Bahn (Bauzeit 1842 bis 1854), die als eine der ersten Fernbahnstrecken in Deutschland die Städte Hof und Lindau auf einer Länge von 565 Kilometern verband – und auch über die zweigleisige Kemptener König-Ludwig-Brücke führte – wurde als Meisterleistung moderner Bautechnik gefeiert.
Fachwerkbrücke
Da in Bayern die Stahlproduktion bekanntlich nicht beheimatet und der Import teuer war, dominierte noch bis etwa 1860 der Werkstoff Holz den Brückenbau. Der Leiter der Eisenbahn-Kommission, August von Pauli, entschied sich bei der Illerüberquerung in Kempten für eine Fachwerkbrücke, mit der größere Spannweiten von über 50 Metern möglich waren. Seine Mitarbeiter, die Ingenieure Carl Cullmann, der auf einer Amerika-Exkursion diese Bauweise kennenlernte und mit nach Europa brachte, und Carl Ruhland studierten dieses Howe’sche Fachwerksystem intensiv und konnten das Trageverhalten rechnerisch und auch praktisch noch weiter optimieren. Aufgrund dieser Analysen wurde die König-Ludwig-Brücke mit ihren Spannweiten von 37 Metern im Westteil, 54,8 Metern im Mittelteil und 28,6 Metern im östlichen Bereich entworfen, geplant und erbaut.
Das 19. Jahrhundert brachte in der Geschichte des Bauingenieur-Wesens eine Neuordnung der Ausbildung mit sich. Bis etwa 1830 waren Planer reine Mathematiker und Naturwissenschaftler. August von Pauli war noch ein Schüler des berühmten Carl Friedrich Gauss. Erst langsam entwickelte sich eine eigenständige, akademische Ingenieurausbildung, die im Bereich Brückenbau nicht mehr auf Erfahrungswerte, sondern auf konkrete Berechnungen setzte. Die heutige Technische Universität München hat ihre Wurzeln in der 1833 gegründeten Technischen Hochschule, die 1868 zur Polytechnischen Schule München umbenannt wurde und ab 1877 bis 1970 die Königlich Bayerische Technische Hochschule München war.
Die König-Ludwig-Brücke hat eine bewegte Geschichte. Schon 17 Jahre nach ihrer Eröffnung wurde sie 1879 zum ersten Mal verstärkt und ertüchtigt, um den deutlich schwerer gewordenen Loks Stand zu halten. 1905 wurde sie als Eisenbahnbrücke außer Dienst gestellt und zu einer Straßenbrücke umgebaut. Die Königlich
Bayerische Staatseisenbahn hatte für die Zu- und Abfahrt des Kemptener Kopfbahnhofs zwischen 1904 und 1906 die beiden direkt benachbarten Oberen Illerbrücken errichten lassen, die als die größten Stampfbetonbrücken der Welt ebenfalls besondere Zeugnisse der frühen Ingenieurbaukunst sind. Das Ensemble dieser drei Brücken ist bauhistorisch beeindruckend und einmalig.
1911 erwarb die Stadt Kempten die König-Ludwig-Brücke. Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs, im April 1945, zerstörte die Wehrmacht durch Sprengung deren östliche Felder. Aber bereits im Juni 1945 begann der Wiederaufbau. Ab 1970 floss der Verkehr, nachdem der Hauptbahnhof an den Stadtrand verlegt worden war, über die benachbarte Obere Illerbrücke II, die König-Ludwig-Brücke wurde gesperrt. Von 1986 bis 1987 erfolgte der Umbau der Brücke zum Geh- und Radweg. Damals wurde die Fahrbahnbreite von zwei Brückenträgern auf einen Träger reduziert und auch die Verkleidung – als Schutz gegen Wind und Wetter – wurde entfernt, um die ursprüngliche Form sichtbar zu machen. Die damalige DIN 68800 ließ diese Ausführung zu. Mit Verkleidung wäre die Windlast zu groß geworden.
Bereits Ende der 1970er-Jahre übertrug die Stadt Kempten dem ortsansässigen Ingenieurbüro Konstruktionsgruppe Bauen AG den Auftrag zur Bauwerksprüfung nach DIN 1076. Auch für den Umbau 1986/1987 trug das Kemptener Ingenieurbüro die Verantwortung. Als Ende 2011 die Überprüfung auf Gebrauchstauglichkeit, Standsicherheit, Dauerhaftigkeit und Tragfähigkeit nur noch die ungenügende Zustandsnote 3,5 (auf einer Skala von 1 bis 4) ergab, wurde der Illerübergang bald darauf für den Fußgänger- und Fahrradverkehr gesperrt. Im August 2015 entschied der Stadtrat, das Brücken-Denkmal grundlegend für Fußgänger und Radfahrer zu sanieren und somit dieses außergewöhnliche Bauwerk zu erhalten.
Als die Entscheidung für ein Instandsetzungskonzept getroffen war, erfolgte eine besonders intensive Bauwerksprüfung, bei der verschiedene Verfahren zum Einsatz kamen. Die Kemptener Ingenieure haben unter anderem eine Ausbildung zum Industriekletterer absolviert, um über Seile und Sicherungen die Schäden möglichst nah zu erfassen. Neben der visuellen, handnahen Begutachtung wurden an bestimmten Stellen auch Feuchtemessungen, Bohrwiderstandsmessungen sowie Impulstomografien und Schadstoffanalysen durchgeführt. Die größten Schäden, verursacht vor allem durch den Verwitterungsprozess, wurden an den Schwellen der Howe’schen Träger und an den Auflagebereichen (Lasteinleitungsbereiche) festgestellt.
3-D-Modell erstellt
Die im Laufe der Jahre ermittelten Schadensdaten wurden systematisch erfasst, kartiert und in einer Datenbank als Web-Interface abgelegt. Im nächsten Schritt wurde ein 3-D-Modell erstellt, mit dem die Auswirkungen der Schäden auf Baugruppen beziehungsweise auf das gesamte Tragwerk simuliert werden konnte.
Aus diesen Erkenntnissen wurde das konkrete Instandsetzungskonzept für das Gesamttragwerk abgeleitet. Mithilfe umfangreicher Tragwerksberechnungen konnten die zu ersetzenden Bauteile bestimmt und zusammengestellt werden. Dadurch, dass alle beteiligten Planer über das Web-Interface Zugriff auf die Daten hatten, war es möglich, im Laufe der langen Projektlaufzeit sämtliche Schädigungskategorien und aktuelle Bewertungen in dieses Tool einzupflegen.
Ein besonderes Problem stellte die Windlast dar, für die eine Lösung gefunden werden musste. Bei einer geschlossenen, neuen Verkleidung zum Schutz der Brücke wäre die Lagesicherheit nicht gewährleistet gewesen. Als Lösung wurde eine windabtreibende Lamellenverschalung entwickelt, deren Effektivität über Versuche im Windkanal nachgewiesen werden konnte. Die Lamellen, die einen nahezu uneingeschränkten Blick auf das einzigartige Tragwerk zulassen, übernehmen in Zukunft auch den Witterungsschutz für das Holz.
Für die Bauwerksprüfung nach DIN 1076 waren Jörg Schänzlin, Leiter des Bereichs Forschung & Entwicklung bei der Kemptener Konstruktionsgruppe Bauen AG, und Rainer Böhme, Leiter des Bereichs Bauwerksprüfung/-instandsetzung der Konstruktionsgruppe Bauen AG, gemeinschaftlich mit ihren Teams verantwortlich. Die gesamte Tragwerksplanung der Brücke oblag Schänzlin und die Ausschreibung verantwortete Böhme.
Bis es im Juli 2017 zum Aushub der drei Brückenteile und ihrer Instandsetzung in einer nahe gelegenen Feldwerkstatt kam, waren viele rechtliche und organisatorische Themen zu bewältigen. Zunächst wurden ab 2015 Förderanträge zur Finanzierung der Instandsetzungsmaßnahme gestellt. Die größte Fördersumme stammt aus dem „Bundesprogramm Nationale Projekte des Städtebaus“, das von den gesamten Projektaufwendungen in Höhe von 5,2 Millionen Euro den stolzen Teil von 2,2 Millionen Euro übernahm. Weitere Fördergeber, die Kempten als Bauherr gewinnen konnte, waren die Bayerische Landesstiftung, das Bayerische Landesamt für Denkmalpflege „Entschädigungsfond“ und der Bezirk Schwaben.
Weitere Voraussetzungen waren die wasser- und naturschutzrechtlichen Genehmigungen. Kritisch war zunächst die denkmalschutzrechtliche Erlaubnis, da die Behörde zu Beginn der Ausschreibungsphase noch eine Instandsetzung vor Ort verlangt hatte. Bautechnisch und wirtschaftlich betrachtet hätte dies unverhältnismäßig höhere Kosten verursacht als das finale Aushubkonzept. Daher stimmte das Bayerische Landesamt für Denkmalpflege dem Ausheben und der „externen Instandsetzung“ zu.
Sperrung der Südbrücke
Der Aushub durch die Firma Schmidbauer aus Gräfelfing für den Generalunternehmer Josef Hebel GmbH & Co. KG aus Memmingen erfolgte dann planmäßig zwischen 5. und 7. September 2017. Die benachbarte Stampfbeton-Südbrücke, einer der mit rund 30 000 Kraftfahrzeugen pro Tag meist befahrenen Verkehrswege der Stadt, war bereits einige Tage zuvor für Vorbereitungen gesperrt worden. Zwei Schwerlastkräne mit 750 beziehungsweise 700 Tonnen maximaler Traglast wurden von Teams der Spezialkranfirma Schmidtbauer GmbH & Co. KG aus München in Position gebracht, um die drei Brückenteile – pro Tag eines – sicher an den Haken zu nehmen und auf der Südbrücke dann auf bereitstehende Fahrzeuge zu verladen. Die Tragfähigkeit der Südbrücke war im Vorfeld einer detaillierten Bauwerks-prüfung und -berechnung zur Bestimmung der Festigkeit und Tragfähigkeit unterzogen worden. Diese Aufgabe übernahm Wolfgang Finckh als Spezialist für komplexe Tragwerksstrukturen von der Konstruktionsgruppe Bauen AG.
Bis zum Juli 2018 führten dann die Firma Hebel und das Holzbauunternehmen Buhmann aus Weitnau in der Feldwerkstatt alle Instandsetzungsarbeiten – Reparaturen, Verstärkungen, Holzaustausch – aus. 14 Tonnen zusätzliches beziehungsweise auszutauschendes Material waren erforderlich. Im Vergleich zur Aushublast von insgesamt 126 Tonnen betrug die Einhublast des Mittelteils im Juli 2018 dann 140 Tonnen.
Spektakuläre Retoure
Der Einhub beziehungsweise die nicht weniger spektakuläre Retoure der drei Brückenteile wurde für den Zeitraum 10. bis 17. Juli 2018 terminiert. Diesmal mit insgesamt vier Kränen mit 700, 750 und zweimal 500 Tonnen maximaler Traglast auf der Südbrücke. „Mit dieser Maßnahme haben wir die Grenze der Belastbarkeit der Brücke erreicht“, erklärte Markus Wiedemann, Leiter des Kemptener Tiefbauamts in einem Zeitungsinterview.
Die erneute Sperrung der Südbrücke vom 9. bis 20. Juli 2018 stellte nochmals einen massiven Eingriff in den Verkehr dar. Eine sehr aktive und ausführliche Berichterstattung der lokalen Tagespresse und die Informationen der Stadt über die sozialen Medien sorgten bei den Bürgern für viel Verständnis und anhaltendes Interesse an dieser historischen Maßnahme.
Die Kemptener sind stolz auf ihre historische Brücke, deshalb wird die Stadt ein Ausstellungskonzept extra für interessierte Besucher erstellen. Und so sieht dieses Allgäuer Baudenkmal, das im Herbst 2018 die Geh- und Radwegbrücke eröffnet und im Frühjahr 2019 mit einem feierlichen Festakt die Gesamtfertigstellung feiern wird, einer soliden und substanziell sicheren Zukunft entgegen. (Klement Anwander - Der Autor ist Vorstand der Konstruktionsgruppe Bauen AG, Kempten)
(Neuinterpretation von Charles C. Ebbets Klassiker "Lunch atop a Skyscraper" von 1932 mit der Iller und den Mitarbeitern der ausführenden Holzbaufirma Buhmann aus Weitnau - Foto: Hermann Rupp, Kempten; millimetergenauer Einhub - Foto: Eva Bartussek, Kempten)
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