Bauen

Das Haus Schminke von der Gartenseite her gesehen mit der berühmten Nordostecke. (Foto: Wiegand)

14.04.2016

Wenn aus Fabriken Museen werden

Zeugnisse bemerkenswerter Industriekultur – eine Reise durch Deutschland

Tatort ist Löbau, ein kleines Städtchen in der Oberlausitz östlich von Dresden und ein Geheimtipp auf Sachsens neuer, 51 Bauten umfassenden Route der Industriekultur. In der Nähe reckt sich der 28 Meter hohe „König Friedrich August Turm“ von 1854 empor, der „Gusseiserne“, errichtet von Carl Gottlieb Lippert. Ein filigraner Riese mit Aussicht, auch beim Auf und Ab über die 120 Stufen.
Der Clou ist jedoch eine Übernachtung bei Hans Scharoun, genauer gesagt im Haus Schminke, das Scharoun zwischen 1930 und 1933 für den Nudelfabrikanten Fritz Schminke errichtete. Der wollte ein modernes Haus für zwei Eltern, vier Kinder und ein bis zwei Gäste. Scharoun baute Schminke ein familiengerechtes, praktisches Domizil mit Gartenzugang und Blick ins Grüne.
Der lichte Wohnraum war der Mittelpunkt. Das vier Meter lange Sofa hat nicht überlebt, doch der Wintergarten mit den roten Deckenleuchten und den (nachgekauften) Mies van der Rohe-Schwingstühlen entspricht dem Original. Platzsparend dagegen die so genannte Frankfurter Küche, spartanisch die Kinderzimmer im 1. Stock. Im größeren Elternschlafraum steht das Bett von Fritz Schminke mittig, das seiner Frau rechts an der Ostseite, links die von Scharoun entworfene Dreiecks- couch. Bauingenieurin Julia Bojaryn zeigt auch den für mehrere Personen gleichzeitig nutzbaren Sanitärbereich. Laut Scharoun war es das liebste Haus, das er je gebaut hat. Auf alten Fotos steht er in Badehose zusammen mit der Familie am Teich auf der Gartenseite des Hauses, dessen Nordostecke berühmt wurde. Nach der Beschlagnahme 1945 und Enteignung der Nudelfabrik zogen die Schminkes nach Celle. Zu DDR-Zeiten wurde das Haus von den jungen Pionieren bevölkert, 2009 von einer Stiftung übernommen. Seither ist es von Donnerstag bis Sonntag von 12 bis 17 Uhr geöffnet und kann als Ganzes gemietet und genutzt werden. Schlafen und wohnen bei Scharoun, ein Erlebnis zum moderaten Preis (www.stiftung-hausschminke.eu).

Schwarz-weißer Bau


Anders in Niesky. Das nach jahrelanger Restaurierung wieder eröffnete Konrad-Wachsmann-Haus dient als Museum und vermittelt durch die Dauerausstellung „Holzbauten der Moderne“ viel Wissenswertes (www.wachsmannhaus-niesky.de). Der schwarz-weiße Bau im Stil der klassischen Moderne überrascht im Inneren durch satte Farbgebung. Wachsmann (1901 bis 1980), Pionier der industriellen Holzbauweise, konzipierte das Haus 1927 für einen Direktor der Firma Christoph & Unmack. Diese wurde Europas größter Holzbau-Produzent. In Niesky stehen diese privat bewohnten Häuser unter Denkmalschutz. Das Baukastensystem ist ihnen nicht anzusehen. „Alles was dann kam und in Berlin, New York, Tokio, Chicago, London, Moskau, Paris, Rom, Zürich oder Warschau geschah, das alles begann in Niesky“, so Wachsmann. In Görlitz kündet ein ganzes Gründerzeitviertel von früherer Wirtschaftskraft. Eine Wohnung in den durchsanierten Häusern gibt’s für 5,50 bis 6,00 Euro/Quadratmeter Kaltmiete. Mit zusätzlichen Vergünstigungen werden Umzügler erfolgreich angelockt, weiß der Architekturhistoriker und Hochbau-Ingenieur Andreas Bednarek. Überdies zählt Görlitz mit seiner komplett erhaltenen Altstadt zu den schönsten Städten Deutschlands. Im Hotel Börse (von 1706) kann man/frau sich geschichts-trächtig betten. Auf der Industriekultur-Route liegt auch die Landskron-Brauerei - heute eine private Brau-Maufaktur –, ein imposanter Backsteinbau. Dagegen ist in der 1914 errichteten und 1948 wieder erbauten Energiefabrik Knappenrode der Ofen aus. Die Dampf- und Elektropressen zur Brikettherstellung dröhnen nur noch bei Besucher-Führungen. Harte Arbeit war’s, aber in ansehnlichen Backsteinbauten.
Wie schön und von welcher Qualität viele Fabrikgebäude sind, wissen nicht nur Experten. Und wie sich Dresdens jahrelang missachteter Erlweinspeicher (von 1914) nach Entkernung in ein Maritim Kongress-Hotel mit spektakulärem Atrium verwandeln ließ, fasziniert. Sachsen hofft, mit seinen Perlen bald zur Europäischen Route der Industriekultur zu gehören. In Döbeln, westlich von Dresden, kann diese sogar wiehern. Kutscher Mario Lommatzsch mit dem Vierbeiner Elko fährt die Gäste im originalen Straßenbahnwagen ins Zentrum. Seit Juli 2007 fährt dort wieder eine Pferdestraßenbahn, so wie von 1892 bis 1926, von Mai bis Oktober an jedem 1. Samstag im Monat von 10 bis 17 Uhr. Auch Sonderfahrten lassen sich buchen. Wiederbelebte Industriekultur im Smartphone-Zeitalter. Aus ganz Europa, den USA, Japan und China kommen die Fans, freut sich Uwe Hitzschke, Vorsitzender des Vereins, der das alles gedeichselt hat.
Weltweit gab es mal 1700 Pferde-Straßenbahnen, die erste ab 1832 in New York, lässt sich im Deutschen Pferdebahnmuseum lernen. In mehr als 90 deutschen Städten taten sie gute Dienste, in Berlin ab 1865, in München von 1876 bis 1900 und in Nürnberg von 1881 bis 1898. Dort stehen die Wagen in Museen, in Döbeln rattert die Industriekultur lebendig durch das fein in Stand gesetzte Städtchen. (Ursula Wiegand) (Die ehemalige Energiefabrik Knappenrode; das Konrad-Wachsmann-Haus und der "Gusseiserne" in Löbau - Fotos: Wiegand)

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