In La Boca, einem der farbenfrohesten Stadtteile von Buenos Aires, bricht regelmäßig alle 14 Tage die Hölle aus. Der Kernschmelzpunkt der Eruption konzentriert sich auf die darin befindliche wohl berühmteste Pralinenschachtel der Welt. Wenn die beiden Stadtrivalen der ersten Argentinischen Fußballliga, die Boca Juniors und River Plate, im Super Classico aufeinandertreffen, können alle anderen Classicos unseres Erdballs schlichtweg einpacken. Inter gegen Milan, Manchester United gegen Manchester City und Barca gegen Real sind dagegen nur winzige lodernde Feuerchen.
Addiert man die Stimmung von San Siro, Old Trafford und Camp Nou ist das Ergebnis La Bombonera (zu Deutsch Pralinenschachtel), das Stadion der Boca Juniors. Diesen arg betuchten Fußballtempel nur als

Vorhof zur Hölle zu bezeichnen, wäre eine schamhafte Untertreibung. Es ist die Hölle. 50 000 Sängerknaben geben sich ein unbeschreibliches Stelldichein. Die nicht enden wollenden Fangesänge oszillieren im obersten Dezibelbereich. Einem Kecak-Tanz gleich hüpfen und singen sich die Gouchos unentwegt auf den extrem steilen Tribünen regelrecht in einen 90-minütigen Trancezustand. Wie auf einem Schiff bei Windstärke 9 heben und senken sich die Tribünen unter dem Getrampel. Und in dieser Hölle ist neben dem ganzen Spektakel „Die Hand Gottes“ allgegenwärtig. Heute noch tragen viele das Trikot mit der magischen Nummer 10, das ihres Idols Diego Maradonna, dessen Weltkarriere einst hier in der Pralinenschachtel begann.
Gibt es eine Möglichkeit, der Hölle zu entfliehen und den Einzug ins Paradies zu finden? Für die eingefleischtesten Fans der Boca Juniors geht das ganz einfach. Sie lassen sich auf dem vereinseigenen Friedhof des Fußballclubs neben ihren verstorbenen verehrten Stars beerdigen. Für alle anderen Erdenbürger scheint dieses Vorhaben auf den ersten Blick zum Scheitern verurteilt zu sein. Außer, man

besinnt sich der Tatsache, dass Antipoden sich bekanntlich anziehen. Von daher ist Buenos Aires auch der ideale Ausgangspunkt, den Weg ins Paradies anzutreten. Es ist ein langer und weiter Weg, aber kein beschwerlicher, sondern höchst genussvoller.
An Bord der MS Hamburg führt er über Montevideo in gebührendem Abstand entlang des argentinischen Festlands über die Falklandinseln hinein ins Herz des Paradieses, wo kein Apfelbaum den Hauch einer Überlebenschance hätte, auf die antarktische Halbinsel, auf den sechsten Kontinent – dem letzten großen intakten Ökosystem unserer Erde.
Die größte Wildnis der Erde
330 Gäste aus Deutschland, Österreich und der Schweiz sind beseelt von einem Lebenstraum: Einmal per Schiff in die größte Wildnis der Erde, die Antarktis zu sehen. Sich zu fühlen wie ein Entdecker. Aber auch die Seelöwen, Seeleoparden, Robben und die putzigen Frackträger, die Pinguine, einmal nicht im heimischen Zoo, sondern in ihrem Jahrmillionen alten Lebensraum zu beobachten. Früher war es einzig Helden, Wissenschaftlern und Seefahrern vorbehalten, in die gefrorenen Gefilde der Antarktis

vorzudringen – der kältesten, ödesten, windigsten und abgelegensten Region unseres Planeten.
Ohne allzu große Strapazen auf sich zu nehmen, wird dieses Privileg heute auch dem gemeinen Kreuzfahrer zu teil. Schließlich haben moderne Expeditionsschiffe, wie die MS Hamburg, eine Eisklasse, die es ihnen erlaubt, im arktischen Sommer, von Oktober bis März, wenn die südlichen Meere mehr oder minder eisfrei sind, den Entdecker-Genen freien Lauf zu gewähren. Und obendrein noch zwei Stabilisatoren mit drei Meter Länge, sollte Poseidon schlecht drauf sein – was relativ häufig der Fall ist, wenn es durch die gefürchteten Roaring Forties, Furious Fifties und Screaming Sixties geht (teilweise orkanartige Wind- und Wasserbewegungen zwischen dem 40. und 60. Breitengrad).
„Steuerbord voraus, Eisberg in Sicht.“ Kreuzfahrtdirektor Peter Schulze Isfort waltet seines Amtes. Die Sichtung gleicht dem Befehl einer Bienenkönigin. Die Restaurants leeren sich schlagartig, die Bordbibliothek gleicht im Null-Koma-Nichts einer Unibibliothek um Mitternacht – alle Passagiere schwärmen auf das Panoramadeck und sichten ihren ersten riesigen Tafeleisberg im XXL-Format. Hoch wie ein sechsstöckiges Haus und breit wie zwei Fußballfelder. Beim Anblick dieses blauschimmernden Giganten würden passionierte Eiskletterer reihenweise in Ohnmacht fallen. Größere und kleinere Torbögen wechseln sich mit glatten, senkrechten Wänden ab. Oben ist er total flach. Ein erster Vorbote der noch gut 350 Kilometer entfernten Süd-Shetland-Inseln und der Südspitze der antarktischen Halbinsel.
Der sechste Kontinent, die Antarktis, ist mit 14 Millionen Quadratkilometern etwa 40 Mal so groß wie Deutschland und hat als einziger Erdteil keine Urbevölkerung. Wer heute auf dieser großen, fast fünf

Kilometer dicken Platte aus Eis und Schnee auf felsigem Untergrund lebt, tut das im Dienst der Wissenschaft. Rund 40 der zahlreichen Forschungsstationen sind ganzjährig besetzt. Würde das antarktische Eis schmelzen, könnte man von Köln oder Düsseldorf aus die Weltmeere auf einem Kreuzfahrtschiff befahren, denn der Wasserstand würde um mehr als 60 Meter steigen. Immerhin sind hier zwei Drittel des weltweiten Wasservorkommens gespeichert.
„Blas voraus!“, trompetet Schulze Isfort durch die Bordlautsprecher. Alle Mann an Deck. Die Hamburg nimmt Fuß vom Gas, gleitet lautlos durch den Beagle-Kanal, kommt zum Stillstand. Zwei Buckelwale sind gekommen, um zu spielen: Katz und Maus mit dem Kapitän und den Schaulustigen mit ihren „Canonrohren“. Mal steigt die Blasfontäne im Doppelpack vor dem Bug Steuerbord, plötzlich Backbord und schließlich hinterm Heck aus dem Wasser. Wie bei den Fischerchören klingt’s, aaahhhhh, jjjaaaaahhhh, wenn die tonnenschweren Säuger zum Luftholen an die Oberfläche kommen und mit ihrer Fluke elegant zum Abschied noch einmal winken und dann abtauchen. Vor der nächsten Showeinlage muss aber erst einmal Futter gefasst werden. Schließlich ist das auch der einzige Grund, warum die Wale die äquatorialen, wärmeren Gewässer nach der Geburt ihres Nachwuchses verlassen haben. Im Südmeer gibt es Unmengen von Krill, Leibspeise der Wale.
Wie auf Daunenfedern gebettet durchzieht die Hamburg die antarktische Konvergenz und nimmt stetig Kurs auf den weißen Kontinent. Im Schlepptau Dutzende Wanderalbatrosse mit Spannweiten von 3,5 Metern, die zur kostenlosen Flugshow einladen. Ohne einen einzigen Flügelschlag, sausen sie einer

Superdrohne gleich durch die Lüfte, indem sie sich die Aufwinde der Wellenkämme zu Nutzen machen. Lässt die Fluggeschwindigkeit nach, lassen sie sich vom Wind in die Höhe tragen, um neuen Schwung zu holen.
Wissenschaftler bezeichnen das schmale Band um den 55. Breitengrad als antarktische Konvergenz. Hier treffen die relativ warmen Wassermassen auf die -2 bis +2 Grad kalten aus dem Süden. Seine größte Ausdehnung erreicht Wasser bei 4 Grad. Ist es kälter, sinkt es ab. Das kalte Wasser aus der Antarktis strömt demzufolge in tieferen Wasserschichten nach Norden. Es wird vom wärmeren Wasser aus dem Norden ersetzt, kühlt, sinkt ab und strömt nordwärts. Ein perfektes „Perpetuum mobile“, ein ewiger Kreislauf.
Vulkanischen Ursprungs
Vor diesem wissenschaftlichen Hintergrund sind Windstärke 10 und hoher Wellengang zu erwarten – doch, Fehlanzeige. Bekanntlich hat ja jede Theorie die Farbe Grau. Wer noch behauptet, dass Fliegen die schönste Art des Reisens ist, wird durch eine Fahrt mit der MS Hamburg eines Besseren belehrt. Die „Kotztüten“, die die Geländer zu den unteren Decks im Ein-Meter-Abstand schmücken – reine Makulatur. Um die fünf Grad. Die Sonne scheint, Sonnenschutz-50-Programm, die Liegestühle sind gut besucht.
Die MS Hamburg erreicht die Südshetland Inseln auf der Bransfieldstraße, lässt Elefant Island und die Inseln Nelson, Robert sowie Greenwich rechts liegen. Sie sind vulkanischen Ursprungs. Ihre

Bergflanken sind ganzjährig mit Schnee- und Eisfeldern bedeckt. Riesige Gletscherströme enden mit schroffen Eiswänden im Meer. Im Winter sind die Inseln von Meereis eingeschlossen, das erst im Frühjahr wieder aufbricht. Bis in den Sommer treiben ausgedehnte Schollenfelder umher, die gemeinsam mit Eisbergen die Fahrt durch die engen Fjorde behindern können.
„Um 8 Uhr Ausbootung der ersten Gruppe“, lautet die Ansage des Kreuzfahrtdirektors. Vor Half Moon Island surrt der Anker in die Tiefe. Schwimmweste anlegen, rein in die Gummistiefel und noch eben schnell durch ein Desinfektionsbad waten. Alsdann bringen die erfahrenen Bootsführer des Expeditionsteams in ihren wendigen Spezialschlauchbooten, den Zodiacs, die eingemummten Passagiere in Stoßtrupps à sechzehn Mann, hinüber zur Insel. Dort hat bereits das neugierige vierköpfige Empfangskomitee neben einem uralten, verrotteten norwegischen Walfängerboot Stellung bezogen. Es heißt die seltsamen Fremden, mit einem kurzen aber kräftigen Geschnatter willkommen. Die schwarz befrackten Zügelpinguine zeigen keine Scheu. „Endlich mal wieder was los. Ist auch schon lange her, dass Besuch da war“, scheinen sie sich zu denken. Sie haben ihrer Pflicht genüge getan, drehen sich um und watscheln auf dem Pinguin-Highway, teils unter Einsatz ihres Schnabels als Eispickel, zurück zu ihrer Kolonie.
Auch die Scuas (Raubmöwen) sind sichtlich erfreut über den Besuch der Riesenpinguine von den Kreuzfahrtschiffen, sind sie doch die ideale Ablenkung für das brütende Pinguin Weibchen oder Männchen. Kurz den Oberkörper in die Luft gestreckt und schon schnappt sich eine Scua ein Pinguin-Ei oder den beflaumten hilflosen Nachwuchs. Verdrückt sich der Pinguin ins Wasser auf Nahrungssuche, ist er vor feindlichen Angriffen aus der Luft oder aus dem Meer durch seinen Tarnkappen-Badeanzug relativ gut geschützt. Von oben lässt sich der schwarze Frack schwerlich von der Meeresoberfläche unterscheiden und sein weißer Bauch schaut von unten wie der Himmel aus.
Der antarktische Verhaltenskodex schreibt den Besuchern vor, wenigstens fünf Meter Abstand zu den Pinguinen zu halten, ihre Straßen nicht zu betreten und den Pinguinen generell „Vorfahrt“ zu gewähren. Auch sollte nicht auf Flechten und Moose getreten werden. Die erholen sich von einem Fußabdruck auch nach 100 Jahren noch nicht.
Die MS Hamburg nimmt Kurs auf eine der „Top Five“ Touristenattraktionen in der Antarktis, ohne nicht vorher noch durch den extrem schmalen Durchgang Neptuns Blasebalg in die Caldera von Deception Island einzufahren, neben Santorini in der Ägäis, eine der größten und imponierendsten Kraterinseln der Erde: Cuverville Island. Dort erwartet den weitgereisten Gast eine einmalige Performance. Aus der nahe gelegenen Gerlachstraße driften Eisberge heran, die nur der Strömung und dem Wind gehorchen und gehen prompt in die Falle. Von den Wellen auf und nieder bewegt, drücken sie zuerst ihre Unterseiten in den Grund und schrammen dann noch weiter auf die Küste zu, bis sie endlich ihre letzte Ruhestätte finden. Gestrandet, einer nach dem anderen, liegen sie zusammen da wie auf einem Friedhof – langsam schmelzende Grabsteine. Neben dem Eisberg-Friedhof ist noch eine Kolonie von 10 000 Eselspinguinen auf Cuverville Island zu bestaunen.
Weite Gletscherfelder
Bevor die MS Hamburg durch den s-förmigen Neumayer Kanal driftet, darf eine 45-minütige Zodiacfahrt durch die Paradise Bay samt Anlandung auf der größten Eistorte der Welt, dem Kontinent Antarctica, unweit der Argentinischen Forschungsstation Almirante Brown – von hier sind es nur noch schlappe 2700 Kilometer bis zum Südpol – und der Besuch von Port Lockroy auf Wiencke Island mit seiner britischen Base A oder auch Bransfield House genannt nicht fehlen. Es können das daneben gelegene kleine Museum besichtigt und im angeschlossenen südlichsten „Kaufhaus der Welt“, einem kleinen Souvenirshop mit südlichstem Postamt der Welt, kräftig antarktische Devotionalien gekauft werden. Ende der arktischen Sommersaison kann es schon mal vorkommen, dass die hier aufgegebene Post von der fleißigen Postbeamtin des Britischen Königreichs bis zu ihrem nächsten Dienstantritt ein halbes Jahr liegen bleibt.
Die Passage durch die zwei bis vier Kilometer breite und 30 Kilometer lange Seestraße führt durch eine der schönsten Landschaften der antarktischen Halbinsel. Steile, bis zu 1000 Meter hohe Bergflanken, weite Gletscherfelder, Eisabbrüche und zig Eisschollen gleiten ganz nahe am Schiff vorbei. Man könnte heulen vor Glück.
Ist der Neumayer Kanal geschafft, ist eigentlich der Lemairekanal ein Must. Er gehört zu den wohl spektakulärsten Schiffspassagen auf diesem unseren Erdball. Doch Eisberge und Eisschollen haben an seinem schmalen Ende eine unüberwindbare Barriere geschaffen und eine Durchfahrt unmöglich gemacht.
Etwas unverhofft muss die MS Hamburg die Rückfahrt aus dem Paradies antreten. Den Kreuzfahrern wird die Fahrt durch die Drake Passage in Richtung Kap Hoorn (hier küssen sich Pazifik und Atlantik) nicht als ein Höllenritt in Erinnerung bleiben. Die Hölle wird einige von ihnen erst wieder erwarten, wenn sie von Ushuaia auf Feuerland, der südlichsten Stadt der Welt, wieder in ihrer hektomatischen Heimat angekommen sind.
(Frank Heinzl)
(La Bombonera in Buenos Aires; unterwegs mit der MS Hamburg; alte und neue Seefahrt; Anlandung in der Half Moon Bay; im Nemayer Kanal und auf Cuverville Island - Fotos: Martina Kohler)
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