Freizeit und Reise

Im Hafen von Althagen. (Foto: Angelika Irgens-Defregger)

22.08.2022

Zwischen Ostsee und Saaler Bodden

Freilichtmaler entdeckten vor 130 Jahren die Schönheiten von Ahrenshoop in Mecklenburg-Vorpommern

Dieser Sommer bedeutete für mich eine große Entwicklung. Ich malte (…) meine besten Landschaften und große figurative Arbeiten in sehr starken, glühenden Farben, absolut nicht naturalistisch und stofflich“, so Alexej von Jawlensky. Sein Credo: „Dies war eine Wendung in meiner Kunst.“ 

1911 kam der Wegbereiter der abstrakten Malerei und Mitbegründer des „Blauen Reiters“ zusammen mit seiner Lebensgefährtin Marianne von Werefkin nach Prerow im Norden der heute zu Mecklenburg-Vorpommern gehörenden Halbinselkette Fischland-Darß-Zingst. Das Künstlerpaar ließ sich von der Ursprünglichkeit und Naturbelassenheit der nur 800 Meter breiten Landzunge zwischen Ostsee und Bodden inspirieren. Mit ihren Werken schöpferischer Selbstbesinnung schrieben sie Kunstgeschichte.

Es waren die Künstler, die den benachbarten kleinen Fischer- und Bauernort Ahrenshoop im Landkreis Vorpommern-Rügen vor 130 Jahren weithin bekannt gemacht haben. Sie erkannten die Einzigartigkeit der Naturlandschaft und schärften den Blick für die Schönheiten dieses kargen pommerschen Landstrichs. Sie bescherten dem Ort nicht nur eine wahre Kunstinvasion. Mit ihren in Berlin oder München ausgestellten Gemälden erschufen sie Sehnsuchtsorte in den Köpfen des genervten Städters und machten die Tourismusdestination deutschlandweit attraktiv. 

Wer in der Ferienregion Fischland-Darß-Zingst Urlaub macht, wird rasch entdecken, was naturhungrige und ruhesuchende Künstler auf dem schmalen Landstreifenden westlich von Rügen und Hiddensee zwischen Rostock und Stralsund begeisterte, unbeschreiblich schöne Sonnenuntergänge am Meer, das in den Hitzemonaten für klimaneutrale Abkühlung sorgt; weiße Sandstrände und -dünen mit Strandhafer (heute etwas monoton in Reihen bepflanzt als Küstenschutzmaßnahme); salzhaltige Luft, Wind und Wellen, die mit ihrer schaumigen Brandung ans Steilufer des Fischlands zwischen Wustrow und Ahrenshoop schlagen – ein teilweise mit Sanddorn- und Ölweidengebüschen bedecktes, aktives drei Kilometer langes Riff, das jährlich durch Erosion bis zu fünf Meter zurückversetzt werden kann und seine größte Höhe von 18 Metern am Althäger Sandberg erreicht.

Darüber hinaus gibt es Wälder mit Stechpalmen und Kiefern, die dem meist vorherrschenden Westwind und Stürmen widerstehen, windschief wachsen und jeden Landschaftsmaler in ihrer Bizarrheit entzücken; reetgedeckte Häuser, sogenannte Katen, mit bunten Fassaden und Hauseingängen.

Von der Naturlandschaft angezogen wird auch die Tierwelt. Bis zu 70 000 graue Kraniche rasten im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft, wenn sie im Frühjahr eilig zu ihren Brutplätzen nach Skandinavien aufbrechen oder wenn sie sich im Herbst ein Fettpolster für ihren Flug in den Süden anfressen. Deutschlands größtes Raubtier auf freier Wildbahn, die Kegelrobbe, rastet gelegentlich am Strand von Ahrenshoop.
Zeitgeschichtliche Brüche, neue Grenzziehungen und politische Veränderungen kennzeichnen diesen auch heute noch lebendigen Künstlerort in Mecklenburg-Vorpommern, der Fischland und Darß verbindet.

Der Name Ahrenshoop hat eine lange Geschichte. Sein Ursprung verweist vermutlich auf eine Einöde eines deutschen Siedlers, den „Hof des Ahrens“. Im Mittelalter herrschten pommersche Herzöge über das als Handelsplatz vorgesehene, sogenannte „Powerdörp“ (Spottname für den Ort der „Poweren“, der armen Leute). Nach dem Dreißigjährigen Krieg folgen ihnen die Schweden. Als sie 1696 ihr Neuland vermessen, werden nur zwei Wohnhäuser in die Matrikelkarte von „Ahrenshöfft“ eingezeichnet. 1825 werden dann immerhin 39 Wohnhäuser und ein Bauernhof gezählt.

Nach dem Wiener Kongress 1815 übernehmen die Preußen das Land, in dem neben der Schifffahrt die Landwirtschaft und Fischerei als Erwerbszweige eine Rolle spielen. Im Hafen von Althagen kann man noch die alten Zeesboote mit roten Segeln aus der Ära der Segelbootfischerei bewundern. Ein Kulturdenkmal und Architekturjuwel ist die hölzerne und rohrgedeckte Schifferkirche aus den 1950er-Jahren, die einem mit dem Kiel nach oben liegendem Boot ähnelt und die im Dorfbild dominierenden Materialien aufgreift.

Noch immer kann man der Vergangenheit des ehemaligen Fischerdorfs als Künstlerrefugium auf Schritt und Tritt nachspüren. Ein als Rundweg angelegter Kunstpfad führt zu zehn stimmungsvollen Werken namhafter Künstler am Standort ihres Entstehens. Beispielsweise zum alten Schifferfriedhof in den Dünen, dargestellt auf einem Gemälde von dem „Gründungsvater“ der Künstlerkolonie Paul Müller-Kaempff 1893 oder zum Hohen Ufer, das in hellen Pastelltönen festgehalten ist in einem Werk von Hugo Jaeckel. Die Künstler sind noch heute identitätsstiftend. Als Tourismusmagnet und Künstlertreff erfährt der Ort, indem sich Ateliers und Galerien aneinanderreihen, gerade sein Revival.

Paul Müller-Kaempff gehörte zur ersten Generation von Künstlerinnen und Künstlern, die hier heimisch wurden. Bei einer Wanderung entdeckte er Ahrenshoop: „…zu unseren Füßen ein Dorf: Ahrenshoop. Wir hatten von seiner Existenz keine Ahnung und blickten überrascht und entzückt auf dieses Bild des Friedens und Einsamkeit.“

Der Maler war der führende Anreger und Organisator der Künstlerkolonie Ahrenshoop, die im Zuge einer europäischen Bewegung entstand, die im französischen Barbizon in den 1830er-Jahren ihren Ursprung hatte. Mit seiner Malschule St. Lukas und dem Kunstkaten rief Müller-Kaempff Institutionen ins Leben, die bis heute noch bestehen.

Neben seinem malerischen Werk hat er ein umfangreiches zeichnerisches Werk hinterlassen, was jüngst im örtlichen Kunstmuseum in einer Sonderausstellung gezeigt wurde. Das privatwirtschaftlich betriebene Haus, dessen mehrfach mit Preisen ausgezeichnete Architektur (Staab Architekten, Berlin) sich an die Dorfstruktur der Künstlerkolonie anpasst und mit seiner Kubatur Elemente der lokalen Bauweise aufnimmt, ist ein Ensemble aus fünf aneinander gefügten Einzelhäusern mit Oberlichtern und einem dazwischen gespannten Flachdach. Die Fassadengestaltung aus Metall transformiert traditionelle Rohrdächer, die ihre ursprünglich goldfarbene strahlende Oberfläche mit der Zeit verlieren und eine graubraune Patina erhalten.

Die Außenhaut altert in analog zur Struktur reetgedeckter Bauernhäuser. Was das kleine Museum seit seiner Eröffnung im Jahr 2013 so attraktiv macht, ist das breite Spektrum des Sammlungsinhalts. Es präsentiert nicht nur den stetig wachsenden museumseigenen Fundus, sondern auch zeitgenössische Kunst und ist Begegnungsstätte heutiger Künstler.

Viele der Künstlerwohnungen und -ateliers sind heute charmante Hotels, wie die zum rohrgedeckten, himmelblauen Romantikhotel „Fischerwiege“ dazugehörige backsteinrote alte Malschule Dünenhaus am Schifferberg von Friedrich Wachenhusen. Sein Dünenhaus lockte vor dem Ersten Weltkrieg zahlreiche „Malweiber“ an, denen eine akademische Kunstausbildung lange verwährt blieb: „Wie die Heuschrecken überfielen die geölten Jungfrauen das Land. Ließen keine Fleckchen frei, auf dem sie nicht ihre Helgoländerhaube und ihre Feldstaffelei postierten. Man kann sich natürlich vorstellen, daß es in Ahrenshoop mit der Zeit überhaupt nichts mehr gab, was nicht schon in Oel, Aquarell, Pastell, Kohle, Buntstift, Nadel, Kreide und Leinwand, Papier, Kupfer, Stein, Pappe abkonterfeit, radiert, lithographiert war.“

Wenn im Foyer des neben einem naturbelassenen Wald liegenden Hotels Fischerwiege Werke von Paul Müller-Kaempff und anderer Künstlerinnen und Künstler der Gegend zu bewundern sind, dann steckt dahinter mehr als nur ein PR-Gag. Der Hausherr, Roland Fischer, ist ein passionierter Sammler, der Kunst nicht nur als Wandschmuck auf dem Weg zum Hotelschwimmbad inszeniert, sondern auch als Kulturgut im Konvolut erhält.
Dazu gehört auch seine umfangreiche Privatsammlung der prominentesten Vertreterin der Künstlerkolonie Ahrenshoops Elisabeth von Eicken. Sie machte den Ort zu ihrem Schaffensmittelpunkt. Bedauerlicherweise ist ihr Lebenswerk, das von öffentlichen Sammlungen und Museen erworben wurde, nach dem Zweiten Weltkrieg verloren oder verschollen gegangen. Den Namen Fischerwiege entwickelte die Familie Fischer in einem Wortspiel. Traditionell wurden einige Kapitänshäuser auf dem Fischland „Schifferwiege“ genannt. Weil die Familie Fischer ihren 1996 eröffneten Hotelneubau am Schifferberg errichtete, kam es zu dem Namen Fischerwiege.

Ähnlich wortgewandt agierte man beim „Café Namenlos“, dem Stammhaus der Familie Fischer seit Ende der 1920er-Jahre. Das Haus, das heute Hotel- und Restaurantbetrieb vereint, wurde 1912 nach Plänen des Rostocker Architekten Walter Butzek errichtet. Als die ehemalige Kurhausbesitzerin das Haus als Café unter dem alten Namen des Kurhauses „Bogislaw“ führen wollte, erwirkte der neue Kurhausbesitzer ein Namensverbot. Auf der Suche nach einem neuen Namen, schlug der Berliner Zeichner Hermann Abeking vor, es doch einfach „Café Namenlos“ zu nennen.

Nach umfangreichen Sanierungsmaßnahmen erstrahlt das auf einer Düne stehende Gebäude pinkfarben im neuen alten Glanz. Seine einzigartige Lage ermöglicht es den Gästen an lauschigen Abenden magische Momente zu erleben: Vor dem Abendessen einen Longdrink auf der Hotelterrasse zu genießen und dabei gleichzeitig die rote Sonne im blauen Meer versinken zu sehen. Sonnenaufgänge für Frühaufsteher*innen hingegen bietet das Schwesterhotel Fischerwiege. Neben einem freien Blick über Wiesen auf den Saaler Bodden genießen die Gäste auf der Belle Etage alle Vorzüge des Entspannens auf einem großzügig bemessenen Balkon. Traumhaft ist das Frühstück im Freien, das in Strandkörben im Garten neben einem Teich mit quakenden Fröschen eingenommen werden kann. (Angelika Irgens-Defregger)
 

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