Kommunales

Reisende stehen am Busbahnhof (ZOB) in München an einem Bus. Sämtliche Fahrten mit Flixbus von München nach Kiew sind schon lange vorher ausgebucht. (Foto: dpa/Sven Hoppe)

04.10.2022

Merz rudert zurück – doch an seinem Vorwurf ist was dran

Ob Menschen aus der Ukraine, die Geld nach dem SGB II erhalten, auch in Deutschland bleiben, lässt sich nur schwer überprüfen

„Wir erleben mittlerweile einen Sozialtourismus dieser Flüchtlinge: nach Deutschland, zurück in die Ukraine; nach Deutschland, zurück in die Ukraine“, kritsierte Unions-Fraktionschef Friedrich Merz. Der folgende Shitstorm gegen ihn war zu erwarten – wie immer, wenn sich hierzulande jemand erdreistet, auf den Missbrauch von Sozialleistungen durch Migrant*innen hinzuweisen. Pflichtschuldigst ruderte Merz zurück und entschuldigte sich zerknirscht bei Twitter. Doch ist tatsächlich alles nur „Hetze“ und „Populismus“?

Der Zentrale Omnibusbahnhof (ZOB) in München an einem Septembervormittag: Zahlreiche Menschen, schwer mit Taschen und Koffern bepackt, drängen in den Fernbus mit dem Reiseziel Kiew. „Dit is’ hier die Rejel, nich’ die Ausnahme“, verrät grinsend der Berliner Akzent sprechende Fahrer, der draußen noch eine Zigarette raucht. Warum sie sogar mit kleinen Kindern ins Kriegsgebiet reisen, möchte keiner beantworten. Auf der Website des Reisebusunternehmens Flixbus sind nahezu alle Fahrten nach Kiew in der nahen Zukunft ausgebucht. Knapp 125 Euro kostet das Ticket laut Online-Auskunft.

Geld, das wohl nicht wenige der am ZOB Abfahrenden mit den Leistungen des deutschen Staates nach dem Sozialgesetzbuch II bezahlt haben. Denn anders als Asylsuchende aus anderen Teilen der Welt erhalten Menschen aus der Ukraine seit Juni dieses Jahres nicht mehr nur die Gelder nach dem Asylbewerberleistungsgesetz – sondern Grundsicherung nach dem SGB II, also die gleichen Beträge wie deutsche Hartz-IV-Beziehende. Die Ukrainer*innen – inzwischen sind es schätzungsweise mehr als eine Million, die nach Deutschland gekommen sind – erhalten dann eine sogenannte Fiktionsbescheinigung. Das ist eine vorläufige Aufenthaltserlaubnis.

Im Gegensatz zu Asylsuchenden, die sich für die Zeit ihres Verfahrens in einem bestimmten Gebiet aufhalten und in einer Flüchtlingsunterkunft wohnen müssen, darf man sich mit der Fiktionsbescheinigung völlig frei in Deutschland bewegen. Natürlich muss man formal eine Wohnung angeben – aber „mit dem vorhandenen Personal kann nicht kontrolliert werden, ob die Personen auch dort leben; allenfalls Stichproben sind möglich“, erläutert Andrea Degl, die Geschäftsführerin des Bayerischen Landkreistags. SGB-II-Leistungen würden im Unterschied zu Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz auch nicht monatlich überprüft, ergänzt Andrea Degl.

Für die bayerische Staatsregierung ist das Ganze ohnehin kein Thema. „Für den Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) gibt es hier keine Erkenntnisse zu einer größeren Problematik oder zu einem systematischen Leistungsmissbrauch“, teilt auf Nachfrage der Staatszeitung eine Sprecherin von Sozialministerin Ulrike Scharf (CSU) mit.
Daryna B. (44, Name von der Redaktion geändert) kam vor fast 20 Jahren aus der ukrainischen Stadt Schytomyr nach München, arbeitet als Sekretärin in einer Exportfirma. Sie ärgert sich über manche Landsleute. „Ich bekam damals nichts vom deutschen Staat, musste arbeiten. Heute lassen sich die Deutschen von Betrügern ausnutzen.“

 

"Nicht einschüchtern lassen durch die Empörten": Unterstützung von Grünen-OB Boris Palmer



Unterdessen bekommt der Oppositionsführer im Bundestags vom wohl prominentesten grünen Kommunalpolitiker Deutschlands Unterstützung: Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen, sagte, Merz solle sich „nicht einschüchtern lassen.“ Der CDU-Chef habe aber „der Sache mit dem Begriff nicht geholfen, denn jetzt haben die Empörer wieder die Oberhand.“

Es sei, so der Rathauschef aus Baden-Württemberg, "nicht einzusehen, warum es Flüchtlinge erster und zweiter Klasse geben soll und warum wir so viele Leistungen ausbringen, dass Leute nur wegen dieser erhöhten Leistungsanreize ihr bisheriges Zufluchtsland wechseln und nach Deutschland kommen“, so Palmer im Gespräch mit dem Kölner Stadtanzeiger. Hintergrund der Debatte ist, dass Ukraine-Flüchtlinge - anders als andere Geflüchtete - unmittelbar Zugang zum Hartz-IV-System haben. Die Bundesregierung hat nach eigenen Angaben keine Hinweise auf Leistungsmissbrauch durch ukrainische Flüchtlinge. Allerdings: Die nötigen Daten werden auch nirgendwo zentral erfasst.

Dass er sich kritisch über den Sozialmissbrauch und die Integrationsunwilligkeit vieler Migrant*innen äußerte, bescherte Palmer bereits ein Parteiausschlussverfahren; aktuell lässt er seine Mitgliedschaft bei den Grünen bis nächstes Jahr ruhen. Palmer bewirbt sich aktuell für eine dritte Amtszeit als OB von Tübingen - allerdings als unabhängiger Kandidat. Die Grünen wollten ihn aufgrund seiner Äußerungen nicht mehr nominieren und gehen nun mit einer neuen Kandidatin ins Rennen um den Chefsessel der Universitäts-Kommune. (André Paul)

 

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