Kommunales

In München gibt es seit 2013 einen Live-Stream aus dem Stadtrat. OB Dieter Reiter (SPD) findet das gut – aber nicht alle seiner Kollegen im Freistaat. (Foto: Stäbler)

12.02.2021

Fallstricke beim Live-Stream aus dem Stadtrat

Virtuelle Sitzungen: In Ingolstadt pöbelte der sich ungehört wähnende Bürgermeister gegen Kolleg*innen, anderswo hat man dagegen Angst vor dem Aus der freien Rede

Es waren bloß fünf Worte, mehr gemurmelt denn gesprochen – und doch schlugen sie hohe Wellen in Ingolstadt. In einer Stadtratssitzung Anfang 2018 raunte Bürgermeister Albert Wittmann (CSU) halblaut jenen Satz, der später wochenlang Gesprächsthema Nummer eins im Ort war: „Mei, is des ein Deppenhaufen!“

Was Wittmann nicht ahnte: Zwar konnte ihn im Saal kaum jemand hören, doch über das Mikrofon des neben ihm sitzenden Oberbürgermeisters wurde seine Worte aufgezeichnet und fanden ihren Weg in einen Audio-Live-Stream, der seinerzeit von den Sitzungen im Internet übertragen wurde. Und so dauerte es nicht lange, bis der Kommentar die Runde machte und für Empörung bei den anderen Fraktionen sorgte.

Da half es wenig, dass Wittmann später angab, er habe nicht etwa den Stadtrat gemeint, sondern auf eine private SMS reagiert. Das Wort vom Deppenhaufen war in der Welt – und wurde später sogar in einem Lied verewigt, gesungen beim Starkbieranstich einer örtlichen Brauerei. Derweil wurde der seit 2014 angebotene Audio-LiveStream der Stadtratssitzungen kurz darauf gestrichen – aus Datenschutzgründen, wie es hieß.

Viele Menschen wollen kritisieren – aber bitte nur anonym

Die Episode aus Ingolstadt zeigt die Fallstricke, die bei der Übertragung von Gemeinde- oder Stadtratssitzungen im Internet lauern. Und dennoch haben in den vergangenen Wochen und Monaten etliche Kommunen im Freistaat die Möglichkeit eines solchen LiveStreams geprüft. Zum einen liegt das an den vielen neuen Abgeordneten, die bei der Kommunalwahl 2020 erstmals ein Mandat errungen haben und nun ihre Ideen einbringen wollen. „Die Erfahrung zeigt, dass das Thema nach einer Wahl besonders oft hochkommt“, sagt Wilfried Schober vom Bayerischen Gemeindetag.

Zum anderen hat die Corona-Pandemie der Live-Übertragung von Veranstaltungen generell einen Schub verpasst. Und so klingt es in vielen Ohren verlockend, eine Gemeinderatssitzung von der heimischen Couch aus zu verfolgen anstatt im Rathaus, unter vielen Menschen und inmitten umherfliegender Aerosole.

Ein Live-Stream der öffentlichen Debatten eines Kommunalparlaments sei ein „Beitrag zur Barrierefreiheit“. So formuliert das Maike Vatheuer-Seele, die seit dem Frühjahr vergangenen Jahres für die FDP im Gemeinderat von Taufkirchen sitzt, einem 18 000-Einwohner-Ort im Landkreis München. Die liberale Politikerin hat im Oktober einen Antrag eingereicht, wonach die Verwaltung die Live-Übertragung der öffentlichen Gemeinderatssitzungen prüfen soll. Aktuell sei es etwa Menschen mit Behinderung, vielen Senior*innen sowie Familien mit kleinen Kindern nicht möglich, zu den abendlichen Treffen im Rathaus persönlich zu erscheinen, heißt es in dem Antrag. Dabei könnte diese Hürde „aufgrund moderner elektronischer Kommunikationsmittel problemlos überwunden werden“.

Tatsächlich haben einige Kommunen diesen Weg bereits eingeschlagen. In München beispielsweise gibt es seit 2013 einen solchen Live-Stream; bis zu 1000 Nutzende schalten dort zu, wenn die Vollversammlung tagt.
Gar schon seit 2012 werden Stadtratssitzungen im oberbayerischen Pfaffenhofen a. d. Ilm übertragen. Dort verfolgen stets einige Hundert Menschen die Diskussionen der Lokalpolitiker – entweder live oder zu einem späteren Zeitpunkt im Archiv. Und in Burghausen im Landkreis Altötting, wo man die Stadtratssitzungen seit dieser Legislaturperiode auch im Internet verfolgen kann, waren bei der Premiere im Mai 2020 etwa 150 Online-Zuschauer live dabei, ehe sich in den folgenden 24 Stunden mehr als 1000 Nutzende die Aufzeichnung der konstituierenden Sitzung ansahen.

Vielfach datenschutzrechtliche Bedenken

Demgegenüber haben etliche Gemeinde- und Stadträte Anträge auf einen Live-Stream aber auch abgelehnt – zumeist wegen datenschutzrechtlicher Bedenken und aus Sorge, dass dies die Debatte hemmen könnte. In einer Broschüre des Bayerischen Landesdatenschutzbeauftragten zum „Datenschutz für Gemeinderatsmitglieder“ heißt es zu den Live-Übertragungen: „Dies kann dazu führen, dass sich gerade ehrenamtliche Gemeinderatsmitglieder nicht mehr unbefangen und spontan äußern. Dadurch aber würde die Funktionsfähigkeit des Gemeinderats beeinträchtigt und der Demokratie insgesamt Schaden zugefügt. Daher ist die Einholung wirksamer Einwilligungen der Gemeinderatsmitglieder unverzichtbar.“

Wobei nicht nur die Lokalpolitiker vorab ihr Einverständnis zu einer Übertragung erklären müssen, sagt Wilfried Schober vom Bayerischen Gemeindetag. Sondern entsprechende Einwilligungen brauche es von allen Menschen, die im Live-Stream auftauchen – egal ob Rathausmitarbeiter oder Zuschauer, sofern sich diese zu Wort melden. Liege von einer Person keine Erklärung vor, „dann muss sichergestellt sein, dass sie nicht aufgenommen wird“, betont Schober.

Unter diesen Voraussetzungen sei man datenschutzrechtlich auf der sicheren Seite – und zwar unabhängig davon, ob die Sitzung bloß live im Internet übertragen oder dort später auch in einem Archiv zur Verfügung gestellt wird. „Der Eingriff ins Persönlichkeitsrecht ist beide Male der gleiche“, erläutert der Verbandssprecher.

Häufig rentieren sich die Kosten nicht

Trotz alledem verzichten die meisten Kommunalparlamente im Freistaat weiterhin darauf, ihre Sitzungen zu streamen – gerade dann, wenn es sich um kleinere Gemeinden handelt. Zudem hätten einige Kommunen ihre Übertragungen auch wieder eingestellt, verrät Wilfried Schober. Und das nicht etwa wegen des Datenschutzes oder der ablehnenden Haltung einzelner Abgeordneter, sondern aufgrund der geringen Resonanz. „Unsere Erfahrung ist, dass meist mit großer Begeisterung gestartet wird und dass das am Anfang auch viele Bürger interessant finden“, sagt Schober. „Doch nach drei, vier Sitzungen gehen die Nutzerzahlen dermaßen runter, dass es nicht mehr im Verhältnis steht zum technischen und finanziellen Aufwand.“ Ihm zufolge müsse eine Stadt schon „30 000 bis 40 000 Einwohner aufwärts haben, damit es genug Menschen gibt, die sich für so etwas gewinnen lassen“.

Von einer solchen Bevölkerungszahl ist Taufkirchen mit seinen 18 000 Seelen deutlich entfernt – doch hat der dortige Gemeinderat kürzlich den nächsten Schritt in Richtung eines Live-Streams seiner Sitzungen gemacht. Gegen die Stimmen der CSU beauftragte das Gremium die Verwaltung, die nötige Änderung der Geschäftsordnung zu erarbeiten sowie Einverständniserklärungen einzuholen. Überdies sollen im kommenden Haushalt 15 000 Euro eingestellt werden, um die Mikrofonanlage im Ratssaal derart aufzurüsten, dass ein Live-Stream möglich ist.

Schon einen Schritt weiter ist man derweil in Ingolstadt, der Stadt der Deppenhaufen-Affäre. Dort hat der Stadtrat nach längerer Sendepause im Sommer entschieden, dass seine Sitzungen künftig im Internet gestreamt werden – nicht nur im Ton, sondern auch als Video. Und zumindest bislang ist in den Übertragungen kein weiterer Lokalpolitiker mit unbedachten Äußerungen aufgefallen.
(Patrik Stäbler)

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