Immer wieder ist zu lesen, dass viele Juden angesichts des zunehmenden Antisemitismus übers Auswandern nachdenken. Doch bislang verlassen offenbar nur wenige den Freistaat in Richtung Ausland. Auch Münchens IKG-Chefin Charlotte Knobloch sagt: "Bayern und Deutschland sind meine Heimat."
Es war das Jahr 1937, als Charlotte Knobloch erstmals merkte, dass sie nicht mehr dazugehörte. Als Vierjährige hatte sie oft mit Buben und Mädchen aus der Nachbarschaft am Münchner Bavariaring Verstecken gespielt. Auch an jenem Tag tobten und schrien dort die Kinder – aber das Tor zum Hof war verschlossen, als Knobloch ankam. Die Kinder auf der anderen Seite schauten in Richtung des kleinen Mädchens, das wild an den Eisenstangen rüttelte. Dann rief die Hausmeisterin: „Geh nach Hause. Unsere Kinder spielen nicht mit Juden!“
Knobloch, die damals noch wie ihr Vater Neuland hieß, ging nach Hause und weinte. „Ich wusste nicht einmal, was das Wort Jude heißt“, sagte sie vor einigen Jahren einmal in einem Vortrag über die damaligen Geschehnisse. Ihre Oma tröstete die kleine Charlotte, sagte, dass sie sicher bald wieder in dem Hof spielen dürfe – doch sie kam nie wieder.
Charlotte Knobloch, die von 2006 bis 2010 Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland war, weiß um den Schrecken der Nazi-Barbarei. Als Sechsjährige musste sie die Reichspogromnacht miterleben, jenen 9. November 1938, als auch in München NS-Schlägertrupps Jagd auf Juden machten. „Wir sind auf der Flucht. Mitten in unserer Stadt, in München. Um uns herum herrschen Lärm und Geschrei“, beschrieb Knobloch den damaligen Horror in ihrer Biografie. Sie erinnert an das Krachen prasselnder Flammen, herabstürzender Balken – und an Menschen, die johlten: „Juda verrecke!“
In einem Versteck überlebt
Die Tochter eines Münchner Anwalts überlebte den Holocaust in einem Versteck. Die ehemalige Haushälterin ihres Onkels hatte das Mädchen in ihrem fränkischen Heimatdorf aufgenommen und als ihre uneheliche Tochter ausgegeben. Sie sei damals oft allein gewesen, sagte Knobloch einmal bei einem ihrer zahlreichen Vorträge: „Doch die Tiere, die haben mir zugehört.“ Erst nach dem Krieg durfte sie ihren Vater wieder in die Arme schließen. Ihre geliebte Oma starb im KZ Theresienstadt.
Doch Hass auf Deutschland ist Knobloch fremd. „Schuld und Schande sterben mit den Tätern. Verantwortung bleibt“, sagte sie einmal. Die heute 91-Jährige ist seit 1985 Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) München und Oberbayern. Sie steht wie wohl keine andere für die Rückkehr des jüdischen Lebens an der Isar. Ihr ist es maßgeblich zu verdanken, dass heute wieder eine Synagoge in der Innenstadt steht. Doch lange waren ihre Koffer für alle Fälle gepackt geblieben – wie bei so vielen Jüdinnen und Juden, die den Holocaust überlebt hatten. Erst als das Jüdische Zentrum in der Landeshauptstadt 2006 eröffnet und von vielen Menschen begeistert aufgenommen wurde, stand für sie fest: Ihre Koffer bleiben ausgepackt.
Doch der brutale Terrorangriff der Hamas im Oktober vergangenen Jahres ist für viele Juden eine Zäsur gewesen. Insgesamt starben an diesem Tag über 1200 Israelis. Beim darauffolgende Krieg in Gaza, durch den die israelische Regierung militärisch versucht, die Hamas und ihr Terrornetzwerk auszulöschen, starben Tausende Palästinenser. In vielen Ländern kam es zu einer Welle antisemitischer Übergriffe – auch in Deutschland. Im Freistaat stieg die Zahl der antisemitischen Straftaten von 2022 bis 2023 laut bayerischem Innenministerium um gut zwei Drittel von 358 auf 589. Vor allem nach dem Hamas-Massaker explodierte die Zahl. Und der traurige Trend scheint ungebrochen: Das BKA hat im zweiten Quartal dieses Jahres bundesweit 715 antisemitische Straftaten erfasst. Ein Drittel mehr als ein Jahr zuvor.
„Selbstverständlich verunsichert“
Immer wieder war zuletzt zu lesen, viele deutsche Juden würden angesichts des auch im Zuge der Flüchtlingszuwanderung wachsenden Islamismus und der Wahlerfolge der AfD über das Auswandern nachdenken? Doch wie sieht es in Bayern aus? Schließlich war es in München, wo die Polizei gerade erst einen islamistischen Terroranschlag auf das NS-Dokumentationszentrum und das israelische Generalkonsulat durch rasches Handeln in letzter Sekunde vereiteln konnte. Die BSZ fragte sechs israelitische Kultusgemeinden im Freistaat an – wovon die Hälfte antwortete. Deren Antworten deuten darauf hin, dass bislang keine Auswanderungswelle erfolgt ist und eine solche voraussichtlich auch auf absehbare Zeit nicht droht.
Martin Arieh Rudolph, Vorsitzender der IKG Bamberg, sagt, die Gemeindemitglieder seien „selbstverständlich verunsichert“. Er fragt: „Was machen die jüdischen Bürger in einer Stadt, in der Nichtjuden die überwältigende Mehrheit bilden und in der es mannigfaltige Personenkreise gibt, die gegenüber Juden nicht wohlwollend gesonnen sind?“ Und antwortet: „Sie scharen sich um ihre Gemeinde oder sie bleiben zuhause.“ Schließlich seien die meisten Mitglieder der jüdischen Gemeinde „vorgerückten Alters und können sich physischer Gewalt nicht erwehren“. Dem IKG-Chef zufolge sind „Überlegungen, Deutschland zu verlassen und nach Israel zu gehen, unter unseren Mitgliedern nicht sehr ausgeprägt“. Rudolph: „Wenn, dann verlassen die jungen Leute Deutschland, um nach Israel auszuwandern, aber es sind nicht viele.“
"Sich mit der demokratischen Mehrheit verbünden"
Der Vorsitzende der IKG Nürnberg, Jo-Achim Hamburger, sagt sogar, Überlegungen von Gemeindemitgliedern, Deutschland zu verlassen, seien ihm „nicht bekannt“. Er plädiert dafür, „sich mit der demokratischen Mehrheit der Gesellschaft zu verbünden, um die Feinde unserer freiheitlichen Lebensweise zurückzudrängen“. Die IKG registriert seinen Angaben zufolge keine Austritte von Mitgliedern. „Wir bauen auf die Aussagen der Sicherheitsbehörden und der Politik und auf die stets gute Zusammenarbeit mit der hiesigen Polizei“, sagt Hamburger.
In der vergangenen Woche hat die IKG Nürnberg mit einem Festakt unter anderem der Einweihung der zerstörten ehemaligen Hauptsynagoge vor 150 Jahren gedacht. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder fand dabei deutliche Worte: „Wer Juden angreift, greift uns alle an.“ Auch Bayerns Innenminister Joachim Herrmann sagt auf Anfrage: „Die Sicherheit israelischer und jüdischer Mitbürger hat für uns sehr hohe Priorität.“ Der CSU-Politiker betont, kein Täter könne sich „in Bayern in Sicherheit wiegen“. Bereits unmittelbar nach dem Hamas-Angriff habe sein Ministerium die Polizeipräsidien gebeten, „die Schutzmaßnahmen für entsprechende Einrichtungen und Veranstaltungen engmaschig zu überprüfen und gegebenenfalls zu erhöhen“. Das Spektrum der Sicherheitsmaßnahmen kann von einer verstärkten Streifenpräsenz bis hin zu polizeilichen Standposten reichen.
Auch in der Münchner Kultusgemeinde ist das Vertrauen in Bayerns Sicherheitsbehörden groß. IKG-Vorsitzende Knobloch sagt der BSZ: „München ist weiterhin eine sichere und lebenswerte Stadt, ein jüdisches Leben in völliger Normalität und Sicherheit aber auch hier - leider - noch nicht möglich.“ Die Einrichtungen der Gemeinde würden deshalb auch künftig „von unserer eigenen umfangreichen Sicherheitsabteilung in enger Abstimmung mit den staatlichen Sicherheitsbehörden geschützt“. Jüdisches Leben sei hierzulande „bereits seit etlichen Jahren nicht ohne Unsicherheitsgefühl zu denken, der 7. Oktober 2023 mit all seinen Folgen hat diese Entwicklung aber noch einmal entscheidend verstärkt“, so Knobloch. Sie berichtet von einer „aufgeheizten Stimmung mit wachsendem Judenhass - selbst in Bayern“.
Nur Gedankenspiele
Zwar sei auch gegenüber ihr der Gedanke auszuwandern, in den vergangenen Jahren öfter thematisiert worden. Sie betont jedoch, dass dies „bislang überwiegend Gedankenspiele waren“. Die Zahl der Menschen, die die Gemeinde in Richtung Ausland verlassen habe, habe „nicht merklich zugenommen“. Wenn sie heute nach ihrer Meinung zu solchen Plänen gefragt werde, entgegne sie: „Man könnte schon gehen - aber wohin? Die Situation ist heute leider überall auf der Welt angespannt.“
Für Knobloch ist klar: „Meine Zukunft ist und bleibt in München, und Bayern und Deutschland sind meine Heimat.“ Sie sagt aber auch: „Ich hätte nicht gedacht, dass wir hierzulande noch einmal die Debatten führen müssen, die wir heute führen, und ganz sicher hätte ich nicht geglaubt, dass die politischen Ränder wieder so stark werden und Rechtsextreme in Deutschland Wahlen gewinnen.“ Sie sei allerdings „eine optimistische Natur“. „Ich weiß, dass mein Land diese Herausforderung überwinden kann.“
(Tobias Lill)
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