Sollen Menschen mit Behinderung, die in einer speziell für sie konzipierten Werkstatt arbeiten, den gesetzlichen Mindestlohn erhalten? Ja, findet die Europaabgeordnete der Grünen, Katrin Langensiepen, und hat eine Initiative dazu gestartet. Sie erfährt Unterstützung, es gibt aber auch Kritikerstimmen.
Seit der Wahl 2019 sitzen 705 Abgeordnete im Europaparlament. Die Niedersächsin Katrin Langensiepen, die erstmals vor zwei Jahren dorthin gewählt wurde, ist die einzige Parlamentarierin mit einer Behinderung. Dem Durchschnitt in der Gesamtbevölkerung entspricht das bei Weitem nicht. In der EU leben rund 87 Millionen Menschen mit einer Behinderung, das entspricht einem Anteil an der Gesamtbevölkerung von fast 20 Prozent.
Katrin Langensiepen lebt seit ihrer Geburt mit einer seltenen Erbkrankheit, dem TAR-Syndrom, wodurch ihr die Speichen an den Unterarmen fehlen. Außerdem hat die 42-Jährige ein deutlich höheres Risiko, an Leukämie oder einer Herzstörung zu erkranken. Obwohl Katrin Langensiepen eine positiv denkende und fröhliche Frau ist, berichtet sie davon, „seit ihrer Jugend immer wieder Diskriminierung erfahren“ zu haben. Entmutigen ließ sie sich davon freilich nicht: Sie absolvierte eine Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin und war beruflich in Shanghai tätig.
Verstoß gegen die UN-Behindertenrechtskonvention
Doch nicht bei allen Menschen mit einer körperlichen, intellektuellen oder seelischen Behinderung verläuft der berufliche Lebensweg so erfolgreich. Viele von ihnen finden keinen Zugang zum sogenannten ersten Arbeitsmarkt. Damit aber auch sie einer sinnvollen Beschäftigung nachgehen und Erfolge und Anerkennung erfahren, gibt es die Behindertenwerkstätten.
Mit deren Schicksal hadert die Europapolitikerin: „Oft sind sie fernab vom Sichtfeld der Mehrheit, abgeschottet in Sondereinrichtungen, wo sie keinen Arbeitnehmerstatus haben und nur unter sich arbeiten. Das ist ein gesellschaftliches und politisches Problem. Es ist ein Verstoß gegen Menschenrechte – speziell gegen die UN-Behindertenrechtskonvention, zu der sich die EU-Mitgliedstaaten vor über zehn Jahren verpflichteten.“ Wie alle anderen hätten auch Menschen mit Behinderung ein Recht auf Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt, ist Katrin Langensiepen überzeugt.
Deutschland Spitzenreiter mit 300 000 Beschäftigten
Deshalb fordert sie ein Auslaufen der Werkstätten für Menschen mit Behinderung, die gegen Artikel 27 der UN-Behindertenrechtskonvention – der etwa das Recht auf einen freien Zugang zum Arbeitsmarkt beinhaltet sowie das Recht, seinen Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen – verstießen. Stattdessen bräuchten sie einen „vernünftigen Arbeitnehmer-Status“. Kernbotschaft der von Katrin Langensiepen gestarteten Initiative: Auch die Beschäftigten in den Werkstätten für Menschen mit Behinderung sollen künftig den gesetzlichen Mindestlohn erhalten.
Mit 300 000 Beschäftigten ist Deutschland Spitzenreiter des Systems der Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Maximal ein Prozent der dort Beschäftigten schafft aber den Übergang zum ersten Arbeitsmarkt. Der Durchschnittslohn in den Werkstätten liegt bei 155 Euro im Monat – weniger als zehn Prozent des gesetzlichen Mindestlohns, der für eine Vollzeitstelle bei 1584 Euro im Monat liegt.
Das monatliche Einkommen ist also nur ein Taschengeld.
Altersarmut ist damit freilich nicht zwangsläufig verbunden. Während der Beschäftigung in einer Werkstatt werden Menschen mit Behinderungen so versichert, als ob sie mindestens 80 Prozent des Durchschnittslohns aller Arbeitnehmer*innen in der Bundesrepublik erzielen würden – unabhängig vom in der Werkstatt ausgezahlten Lohn. Danach bemisst sich am Ende der Berufstätigkeit die Höhe der Rente.
"Nicht gleich auf die Straße setzen"
Es ginge ihr, versichert die Grüne Langenseipen, „nicht darum Menschen, die derzeit in Werkstätten für Menschen mit Behinderung arbeiten, von einem Tag auf den anderen auf die Straße zu setzen. Es geht darum, Alternativen zu stärken. Denn diese gibt es. Auch für die, die besondere Unterstützung benötigen.“ Beispielsweise gäbe es sogenannte Inklusionsfirmen. Das sind staatlich geförderte Unternehmen, in denen Menschen mit und ohne Behinderung zusammenarbeiten. Dort bekommen sie Unterstützung, aber auch einen regulären Arbeitnehmer*innen-Status mit entsprechendem Mindestlohn.
Unterstützung erfährt Katrin Langensiepen von ihren Parteifreunden im Freistaat. Die Behindertenwerkstätten seien der „Weg in eine Sackgasse“, glaubt auch Kerstin Celina, die sozial- und integrationspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im Bayerischen Landtag. Der Übergang in eine Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt gelänge fast nie. Das liege unter anderem daran, so Celina weiter, weil die ausgeschriebenen Stellen nicht zu dem passen, was die Menschen mit Behinderung an Kompetenzen mitbringen. Auch mangele es oft an nahegelegenen, baulich geeigneten Wohnungen oder einem entsprechenden ÖPNV-Angebot.
Nun ist der Freistaat allerdings hinsichtlich seines Engagements für die Betroffenen sehr engagiert. Ein sehr hoher Anteil der Ausgleichsabgabe von privaten Firmen wird in die institutionelle Förderung gegeben. Die Förderungen, die in die Werkstätten für Menschen mit Behinderung fließen, sind in Bayern extrem hoch, verglichen mit den anderen Bundesländern.
Auch Werkstätten müssen ökonomisch wirtschaften
Dieses Engagement der Staatsregierung anerkennt auch die Grüne Celina. Allerdings: „Der Weg in den ersten Arbeitsmarkt – den sich sehr viele Menschen mit Behinderung von ganzem Herzen wünschen – gelingt aber nicht besser, indem die Werkstätten als Institutionen gefördert werden. Sondern indem Rahmenbedingungen verbessert und Beschäftigungsverhältnisse gefördert werden, und zwar am ersten Arbeitsmarkt und in Inklusionsbetrieben.“
Mit dem Erhalt des gesetzlichen Mindestlohns wären für die Menschen mit Behinderung aber nicht nur Rechte – wie zum Beispiel auf Rente oder Kurzarbeitergeld –, sondern auch Pflichten verbunden: etwa für die Beförderung zum Arbeitsplatz selbst zu sorgen und die Wohnung vom eigenen Einkommen zu bezahlen. Hier sozialpolitisch umzustellen, ohne die Werkstätten und ihre Träger in finanzielle Nöte zu bringen, braucht eine lange Übergangsphase. Zur Wahrheit gehört aber auch: Auch Werkstätten sind Betriebe, die ökonomisch arbeiten müssen, und deswegen ist der Anreiz für sie rein betriebswirtschaftlich gesehen nicht so groß, ihre besten Leute an den ersten Arbeitsmarkt abzugeben.
Bezirk Oberbayern einer der größten Anbieter
Der größte kommunale Betreiber von Werkstätten für Menschen mit Behinderung im Freistaat ist der Bezirk Oberbayern mit 29 anerkannten Einrichtungen an 39 Standorten. Dort sind aktuell 8886 Personen beschäftigt. Der Durchschnittslohn, den die Werkstatt auszahlt, beträgt 219 Euro netto. Der Bezirk übernimmt das Arbeitsförderungsgeld für die Beschäftigten in Höhe von 46 Euro sowie die Sozialversicherungsbeiträge von 169 Euro. Für alle Werkstattbeschäftigten mit Behinderungen in Oberbayern führt der Bezirk pro Jahr 18 Millionen Euro an Rentenbeiträgen ab. Arbeitsmittel und Betreuungspersonal der Werkstätten fördert der Bezirk Oberbayern zusätzlich mit 180 Millionen Euro pro Jahr.
Nicht zuletzt wegen dieses Engagements findet die Initiative von Katrin Langensiepen keine Unterstützung bei Josef Mederer (CSU), dem Bezirkstagspräsidenten von Oberbayern: „In Werkstätten erhalten Menschen mit unterschiedlichsten Beeinträchtigungen Tagesstruktur, Arbeit und Anerkennung in einem wertschätzenden Umfeld. Es werden die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten jedes einzelnen Beschäftigten berücksichtigt. „Wenn man alle Mittel, die in die Werkstätten fließen, zusammennimmt, kommt man dem Mindestlohn relativ nahe. Deshalb ist die Forderung nach dem Mindestlohn etwas zu kurz gesprungen“, findet Mederer. (André Paul)
Kommentare (5)