„Der Gemeinderat ist die Vertretung der Gemeindebürger.“ (Bayerische Gemeindeordnung, Artikel 30, Absatz 1.) Folglich sollen die Mitglieder eines Gemeinderats ihre Entscheidungen im Sinne der Bürgerschaft treffen – was freilich nicht immer ganz einfach ist. „Dem Volk aufs Maul zu schauen, ohne ihm nach dem Mund zu reden“, nannte es der frühere Ministerpräsident Franz Josef Strauß (CSU).
Man nehme als Beispiel Höhenkirchen-Siegertsbrunn, ein Ort im Süden des Münchner Speckgürtels. Welches Gemeinderatsmitglied kann dort schon sicher sagen, ob eine Mehrheit der 11 000 Bewohnenden einen Radstreifen entlang des Kirchenwegs befürwortet? Oder ob der Bau einer Tagespflege für Senior*innen von der Bürgerschaft herbeigesehnt wird? Oder ob es nicht viel dringender einen Treffpunkt für Jugendliche im Ort braucht?
Genau bei dieser Ungewissheit der Entscheidungsträger setzt die App Democy an, die infolge eines Gemeinderatsbeschlusses seit wenigen Wochen in Höhenkirchen-Siegertsbrunn zum Einsatz kommt. Hat man als Bürger*in der Gemeinde dieses Programm auf sein Smartphone geladen sowie Wohnort, Alter und Geschlecht angegeben, dann tauchen auf dem Bildschirm nacheinander Fragen zur Kommunalpolitik auf – darunter die oben erwähnten. Sie alle können nur mit „stimme dafür“, „stimme dagegen“ oder „keine Meinung“ beantwortet werden; im Anschluss sieht der Nutzende das bisherige Abstimmungsergebnis. Darüber hinaus lassen sich über die App auch eigene Fragen einreichen, die nach einer Prüfung im Rathaus zur öffentlichen Abstimmung freigeschaltet werden.
„Wir verstehen unsere App als digitale Ergänzung zu bestehenden Formaten der Bürgerbeteiligung wie Bürgerversammlungen oder Bürgersprechstunden“, sagt Julius Klingenmaier. Der 34-Jährige, der in Schwanfeld im Landkreis Schweinfurt lebt, ist Gründer und Geschäftsführer des gleichnamigen Start-ups Democy, das die Zeitschrift Brand Eins als „Tinder für Bürgerbeteiligung“ bezeichnet hat. Wobei die App „nur der sichtbare Teil des Eisbergs ist“, betont Klingenmaier. Weitaus mehr Zeit und Arbeit stecke seine Firma in die Beratung der Gemeinden. So gebe man Workshops in den Rathäusern, helfe bei der Erstellung der Fragenkataloge und begleite die Kommunen bei der Öffentlichkeitsarbeit. „Es geht nicht nur darum, die Bürger zu befragen – und damit ist’s gut“, sagt Klingenmaier. „Wichtig ist, was mit den Ergebnissen passiert und dass die Bürger darüber informiert werden.“
Vor fünf Jahren wurde das Start-up gegründet
Vor knapp fünf Jahren hat Klingenmaier das Start-up gegründet. Seinerzeit lebte er in München und arbeitete hauptberuflich als IT-Spezialist in der Industrie. „Ich habe mich damals gefragt, auf welchen Wegen man sich politisch engagieren kann“, erzählt Klingenmaier. Er selbst habe weder an Demonstrationen teilnehmen wollen – „dafür bin ich eher nicht der Typ“ – noch mochte er einer Partei beitreten. „Und so bin ich auf die Idee einer Bürgerbeteiligungs-App gekommen, um große Meinungsbilder einzuholen“, sagt Klingenmaier. Die Ergebnisse könnten Politiker*innen als Stimmungsbarometer dienen – und als Entscheidungshilfe. „Denn wenn 90 Prozent der Menschen in einer Kommune für eine Sache sind“, sagt Klingenmaier, „dann sollte das auch eine hohe Relevanz für die Politik haben.“
Democy wird aktuell vom Bundesinnenministerium gefördert und zählt zu seinen Kunden zehn Kommunen in Bayern. Nebst Stadt und Landkreis Würzburg sowie mehreren Gemeinden in Unterfranken zählen dazu auch drei Dörfer im Münchner Umland.
Einer von ihnen, nämlich die 13 000-Seelen-Kommune Kirchheim, war im Jahr 2019 der erste Nutzer der App und führte mit ihrer Hilfe mehrere Befragungsrunden durch. „Der Charme von Democy ist, dass es kurz und knackig ist“, sagt Bürgermeister Maximilian Böltl (CSU). „Da kann man auf der Couch schnell mal zehn Fragen beantworten.“ Zudem erreiche man gesellschaftliche Gruppen, die bei klassischen Bürgerbeteiligungsformaten oft unterrepräsentiert seien – etwa junge Menschen und Eltern von kleinen Kindern. Wobei Böltl betont: „Man muss aufpassen, dass man sich nicht nur auf diese App fokussiert – sondern sie als einen zusätzlichen Kanal der Bürgerbeteiligung versteht, neben anderen.“
In Kirchheim wurden die Fragen für die App von den Fraktionen im Gemeinderat formuliert. Im nahen Neubiberg, wo man im Herbst die erste Befragungsrunde startete, war hierfür ein Team aus Rathausbeschäftigten zuständig. Wobei recht bald etliche Fragen aus der Bürgerschaft eingereicht wurden, berichtet Bürgermeister Thomas Pardeller (CSU). Diese wiederum könnten neue Ideen im Rathaus anstoßen – das sei der eine zentrale Aspekt der App, findet der Rathauschef. Der andere: „Democy kann eine Art Stimmungsbarometer sein“, sagt Pardeller. Dies sei gerade in Zeiten von Corona wertvoll, in denen sich der Austausch zwischen Rathaus und Bürgerschaft „nicht so einfach“ gestalte.
Neuer und zusätzlicher Baustein
In Höhenkirchen-Siegertsbrunn erhofft sich Bürgermeisterin Mindy Konwitschny (SPD) durch Democy „einen neuen und zusätzlichen Baustein für unsere Bürgerbeteiligung“. Zwar nehme die App dem Gemeinderat keine Entscheidungen ab, jedoch gäben die Ergebnisse Hinweise darauf, was die Menschen beschäftige und wie sie aktuelle Projekte einschätzten. Vorerst ein Jahr lang wird die Gemeinde die App nutzen – zum Preis von 8000 Euro.
Im Vorfeld hatte es im Höhenkirchen-Siegertsbrunner Gemeinderat durchaus kontroverse Diskussionen über das Vorhaben gegeben. Kritik richtete sich vor allem daran, dass die Abstimmungen anonym erfolgen. Somit könnten Ortsfremde „womöglich sogar bewusst das Ergebnis beeinflussen“, gab CSU-Gemeinderat Roland Spingler zu bedenken. Dazu sagt Neubibergs Bürgermeister Pardeller: „Das ist sicher ein Kritikpunkt, den es abzuwägen gilt.“ Er selbst erachte die Gefahr der Einflussnahme jedoch als gering: „Denn wer interessiert sich schon in Buxtehude für Fragen aus Neubiberg?“
Pardeller jedenfalls äußert sich nach den ersten Erfahrungen positiv über die Bürgerbeteiligungs-App – auch wenn sie die Lokalpolitik mitunter in die Zwickmühle bringe. So habe beispielsweise der Neubiberger Gemeinderat unlängst beschlossen, die Gestaltung der Vorgärten im Ort mittels einer Satzung zu regeln. Bei der Democy-Umfrage hätten dies aber 70 Prozent der Befragten abgelehnt. „Das heißt nicht, dass wir das jetzt nicht machen“, betont Pardeller. „Aber wir sollten uns mit diesem Thema noch mal kritisch auseinandersetzen.“ (Patrik Stäbler)
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