Eigentlich sollte sich Inge Kürzinger an den Notartermin im März 2011 gut erinnern können, schließlich kam es nur zweimal in ihrer Berufslaufbahn vor, dass eine Beurkundung beim Notar schiefging. Doch sie weiß vor dem Ingolstädter Landgericht nur, dass sie ihren Kollegen vor Ort begleitete: sonst nichts mehr. Die ehemalige Prokuristin der kommunalen Ingolstädter Wirtschaftsförderungsgesellschaft (IFG) war als Zeugin im Prozess gegen den früheren Oberbürgermeister Alfred Lehmann geladen. Die Staatsanwaltschaft wirft dem CSU-Mann Bestechlichkeit und Untreue in mehreren Fällen sowie Verletzung von Dienstpflichten vor.
Der geplatzte Notartermin spielt eine wichtige Rolle. Der Vorsitzende Richter der großen Strafkammer, Jochen Bösl, ärgerte sich über das schlechte Gedächtnis der Zeugin und sagte: „Das Erinnerungsvermögen scheint bei Mitarbeitern der IFG nicht sehr ausgeprägt zu sein.“ Ähnlich war es Bösl in der Vorwoche ergangen, als er den ehemaligen IFG-Chef Werner Richler zum Verkauf jenes Gebäudes der ehemaligen Pionierkaserne befragte. Nur der zuständige IFG-Mitarbeiter Karl Heigl konnte sich genau erinnern. Der Termin platzte, weil das Käuferpaar S., Bauunternehmer aus dem Landkreis Eichstätt, den Vertrag in mehreren Punkten kurzfristig „sehr komplex“ abändern wollte, sagte er. Daraufhin habe er die Beurkundung verweigert.
Es wurde laut beim Notar. Die Käufer waren sehr verärgert über den Abbruch. Die Änderungen sollten ihnen den Ausbau und bauliche Veränderungen garantieren und zudem vermutlich steuerliche Vorteile erbringen – ganz geklärt ist das nicht. Heigl wusste, dass dies kein gewöhnlicher Verkauf war. Mehrmals hatten sich die Käufer bereits direkt an den OB gewandt. Heigl fürchtete, dass die verärgerten Käufer Lehmann anrufen und sich beschweren würden. Deshalb schrieb er dem OB eine E-Mail und erklärte ihm, wie es zum Abbruch kam. Zugleich erwähnte er Vorbereitungen, um einen neuen Beschluß des IFG-Beirats herbeizuführen. So ist es gesetzlich vorgesehen. Das wäre ohne Zeitverzug möglich gewesen, sagte Heigl.
Lehmann bekleidete damals viele Ämter und war nicht nur OB, sondern auch Beiratsvorsitzender der IFG. Das Käuferpaar war mit ihm befreundet. Dennoch hätte sich Lehmann an die rechtlichen Vorgaben halten und die Änderungen im Beirat besprechen und beschließen müssen. Dazu kam es nicht. Vier Tage nach dem geplatzten Termin rief er Heigl an und wies ihn knapp an, den Vertrag ohne neuen Beschluß zu beurkunden. Dieser widersprach nicht. „Lehmann ist mein Chef und seine Anweisungen hinterfrage ich nicht“, betonte Heigl mehrfach. Ein heikler Punkt, denn eigentlich ist die IFG eine Tochterfirma der Stadt, die ein OB nicht direkt anweisen kann.
Dass Lehmann drei Monate später privat zwölf der rund 60 Wohnungen und sein Vater weitere vier kaufte von seinen Freunden, das erfuhr Heigl aus der Presse. Als 2016 Ermittlungen gegen Lehmann anliefen und Heigl die Akte für eine Vernehmung aus dem Keller holte, erlebte er eine Überraschung. Die Akte war fast leer. Die entscheidende Mail an den OB über den Abbruch fehlte, ebenso eine schriftliche Bestätigung der Anweisung des OB-Büros, mit der sich Heigl absicherte. „Die Entdeckung des Fehlens war ein persönlicher Schock,“ sagte er.
Mühsam rekonstruierte er über Wochen und Monate hinweg die Akte, damit man ihm keinen Fehler nachweisen kann. Er schlief schlecht. Mehrfach wurde er von der Polizei vernommen. Die Rechtsabteilung der Stadt hielt ihn an, „den Ball flach zu halten“ – wie er allerdings erst nach Androhung von Erzwingungshaft aussagte.
Lehmanns Interesse an den Wohnungen in der Hildegard-Knef-Straße entstand offenbar nicht spontan. Bereits im Februar 2011 schickte ihm das befreundete Ehepaar S. einen Brief mit verschiedenen Grundrissen der Wohnungen. Lehmann antwortete mit einer SMS, dass er sich um das Grundstück „kümmern“ werde. In einem abgehörten Telefonat im Dezember 2016 sagte Lehmann, dass seine Wohnungen von der Firma des Ehepaars S. günstig ausgebaut worden seien, weil er mit ihm befreundet war.
Ex-OB Lehmann weist Vorwürfe zurück
Durch den Kauf im Paket zahlte er insgesamt 230.000 Euro für die 16 Wohnungen im Rohbau sowie weitere 420.000 Euro für den Ausbau durch das Bauunternehmen des befreundeten Paares. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, dabei mit 136.509 Euro von dem Ehepaar bestochen worden zu sein, denn ihre Ausbaukosten beliefen sich in Wirklichkeit auf 556.509 Euro, wie sich aus Rechnungen ergibt. Damit nicht genug: Eines der wichtigsten Beweismittel der Staatsanwaltschaft ist ein Gutachten über den Verkehrswert der Lehmann-Wohnungen zum Zeitpunkt, als dieser sie erwarb. Dem Gutachten zufolge habe Lehmann die Wohnungen für fast eine halbe Million Euro zu billig erstanden. Hier sieht die Staatsanwaltschaft einen finanziellen Vorteil, der für eine Bestechung notwendig ist. Von 2013 bis 2018 habe Lehmann außerdem Mieteinnahmen von mindestens 180.000 Euro erlangt.
Das Gericht beauftragte denselben Immobilienexperten mit weiteren Gutachten: Geprüft wurde, ob die Summe von 230.000 Euro, die Lehmann und sein Vater für die Wohnungen im Rohbau bezahlt hatten, angemessen war – und, ob die von der Baufirma von S. berechneten Ausbaukosten von 420.000 Euro in Ordnung gingen. Der Immobiliengutachter Peter Rossbach kam zum Schluss, dass Lehmann für die Rohbauwohnungen nicht zu wenig gezahlt hatte. Bei den Ausbaukosten sei Lehmann aber „sehr wahrscheinlich“ um mehr als 100.000 Euro zu billig weggekommen.
Der Prozess drehte sich bislang in vier Verhandlungstagen fast ausschließlich um den Verkauf der ehemaligen Pionierkaserne. Die Frau des befreundeten Bauunternehmers ist ebenfalls angeklagt – wegen Bestechung. Ihr Mann ist verstorben.
Außerdem angeklagt ist ein zweiter Bauunternehmer, von dem Lehmann in der Innenstadt auf dem Areal des früheren Altstadtkrankenhauses eine Penthouse-Wohnung gekauft hat. In diesem Fall wirft die Staatsanwaltschaft Lehmann vor, er habe in seiner Funktion als Vorsitzender des Krankenhauszweckverbandes den Verkauf durch Nebenabsprachen und ein vorgetäuschtes Losverfahren so gesteuert, dass er dem Krankenhauszweckverband einen Schaden von mehr als einer Million Euro zufügte und einen Vorteil von mindestens 282.623 Euro erlangte. Dieser Fall wird das Gericht in den kommenden Wochen beschäftigen.
Alfred Lehmann bezeichnete sich zum Prozessauftakt in beiden Fällen als unschuldig und bestreitet die Vorwürfe vehement: „Ich habe nie einen Vorteil angenommen. Ich habe immer im Interesse der Stadt und der Bürger gehandelt.“ Das Urteil wird im Mai erwartet. (Vinzenz Neumaier/Thomas Schuler)
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