Im Februar 1937 muss sich eine dreizehnjährige Schülerin aus einem Ort im Unterallgäu der schwersten Bedrohung ihres jungen Lebens stellen. Der Dorflehrer war einer Aufforderung der NSDAP im Gau Schwaben gefolgt und hatte das seh- und hörbehinderte Mädchen als „erbkrank“ denunziert. Das zuständige Gesundheitsamt in Mindelheim hatte zu entscheiden, ob ein Antrag auf Zwangssterilisation gestellt werden soll. Damit drohte ihr körperliche Verstümmelung in einer Operation, die nicht selten tödlich endete.
Die Denunziation des Lehrers ist nur eines von vielen Beispielen, wie in der Zeit des Nationalsozialismus Bürger ihre Mitmenschen zur Bewahrung eines angeblich „gesunden Volkskörpers“ staatlicher Willkür auslieferten. Ärzte und Hebammen waren zu dieser Meldung sogar verpflichtet.
Ausstellung zum Lesen und Klicken
Wegen der Corona-Pandemie ist das Staatsarchiv Augsburg (Salomon-Idler-Str. 2, 86159 Augsburg) voraussichtlich bis zum 19. April für den Publikumsverkehr geschlossen. Die Ausstellung dauert vorerst bis 29. Mai. Das Begleitheft zur Ausstellung kann angefordert werden unter poststelle@staau.bayern.de Die Bayerische Staatszeitung zeigt Ihnen in unten stehender Bildergalerie viele Dokumente der Ausstellung.
Eine Ausstellung des Staatsarchivs Augsburg in Zusammenarbeit mit Johannes Donhauser vom Staatlichen Gesundheitsamt Neuburg-Schrobenhausen beleuchtet anhand zahlreicher Dokumente, wie die „Erb- und Rassenpflege“ durch die schwäbischen Gesundheitsämter umgesetzt wurde.
Rund 400 000 Menschen wurden während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland von Amts wegen zwangssterilisiert. Grundlage dieser Maßnahme war das „Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses“, in dem es hieß: „Wer erbkrank ist, kann durch (chirurgischen) Eingriff unfruchtbar gemacht werden, wenn nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass seine Nachkommen an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden.“
Geschichten wie die des Unterallgäuer Lehrers oder des Neuburger Amtsarztes Ernst Holländer machen die Schrecken der Zeit für die Ausstellungsbesucher greifbar. Und sie decken auf, dass viele der Täter nach dem Zweiten Weltkrieg nicht für ihre Taten belangt wurden und sogar wieder in ihren Beruf zurückkehren durften. So konnte der Lehrer schon 1948 wieder in den schwäbischen Schuldienst eintreten. Auch viele belastete Ärzte wurden aufgrund des Personalmangels nach dem Krieg rasch in den Dienst zurückgeholt. Rassenhygienische Gesetze und Dienstordnungen hatten sich kaum verändert beziehungsweise blieben – wenn auch nur formal – noch lange in Kraft. Eine Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit fand lange nicht statt. Die Rolle des Öffentlichen Gesundheitsdienstes im Nationalsozialismus wurde bis in die 1980er-Jahre verdrängt und verharmlost.
Die Augsburger Ausstellung arbeitet auf, wie es durch Ideologie, aber auch durch Bürokratie zu Verstümmelung und Euthanasie kommen konnte. Dies wird belegt durch zeitgenössische Dokumente wie Bücher zu Rassenkunde, Erbkarteikarten, Sippentafeln, dem Runderlass des damaligen Reichsministers des Innern über eine „Meldepflicht für mißgestaltete usw. Neugeborene“ vom August 1939 sowie amtsärztliche Anträge und Gutachten. Sie zeigen, dass die Unrechtsmaßnahmen im Dritten Reich überwiegend formal legal begründet und bürokratisch ausgefeilt umgesetzt wurden.
Der kleine Johann war gerade sieben Jahre alt, als er in höchster Lebensgefahr schwebte. Der vermutlich geistig behinderte Junge aus dem Raum Neuburg war 1942 für einige Wochen in die Pflegeanstalt Eglfing-Haar eingewiesen worden. Wie sich aus den Akten ergibt, holte ihn die Mutter gegen den Willen der Ärzte aus der Anstalt und rettete ihm so das Leben.
Unterlagen aus dem Spruchkammerverfahren gegen den Neuburger Amtsarzt Ernst Holländer geben erschreckenden Einblick in dessen innere Haltung auch nach 1945. Er schimpfte über die Belastungszeugen der Spruchkammer: „Gewürdigt wurden überhaupt nur die belastenden Aussagen von Geisteskranken, Psychopathen, Schwachsinnigen, Erbkranken, verbrecherischen oder asozialen Elementen.“ Die eigene Verstrickung in das NS-Unrechtsregime konnte er nicht erkennen.
Neben der Präsentation solcher historischen Dokumente führen die Ausstellungsmacher auch in das amtsärztliche Sprechzimmer mit originalen Möbeln und medizinischen Instrumenten des früheren Gesundheitsamts Neuburg an der Donau. (Rainer Jedlitschka, Patrick Rieblinger)
Kommentare (1)