Kultur

Bizarre Ästhetik: Edward Burtynskys Foto einer Lithiummine in der chilenischen Atacama-Wüste. (Foto: Edward Burtynsky)

26.07.2024

Die Evolution des Smartphones

Die Alexander Tutsek-Stiftung hinterfragt anhand von rund 50 Exponaten, ob man die Welt in der Hand begreifen kann

Der junge Mann mit dem Headset, der kurz nach zwölf Uhr mittags mit ein paar Plastikschachteln aus den Food Stores in der riesigen Lebensmitteltiefgarage der Parkstadt Schwabing kommt, der müsste doch der Richtige sein, den man fragen kann: einer von 12 000 Leuten, die in dieser futuristisch anmutenden Arbeits- und Wohnstadt im Münchner Norden ihr Geld in Chefetagen oder als Verpacker bei Amazon verdienen. Und von denen Stiftungsdirektor Jörg Garbrecht behauptet, das aktuelle Ausstellungskonzept der Alexander Tutsek-Stiftung sei es, „Kultur an Orte zu bringen, wo es einen Bedarf gibt“, in diesem Umfeld aus Arbeitenden als Zielgruppe, mit freiem Eintritt während der Mittagspause und einem Museumsbesuch mit leichtem Zugriff auf das, was schon immer das Spezialgebiet der Stiftung war: Glas und Fotografie.

Jedenfalls hat der freundliche Zufallsgesprächspartner noch nie etwas von der Galerie gleich um die Ecke in der Georg-Muche-Straße und in dem großen dunklen Kubus gehört. Aber jetzt, wo er erfährt, dass es dort in der Blackbox eine Ausstellung über The World in My Hand und via Smartphone zu erleben gibt, da ist er neugierig geworden.

Und dass die Mittagspause vielerArbeitenden verdammt kurz ist, das wissen die Ausstellungsmacher der Tutsek-Stiftung, weshalb sie ein Ausstellungskonzept daraus gemacht haben. Seit 2021 sitzen sie im ersten Stock dieser Blackbox, darüber sind die Räume der Geschäftsleitung der Refratechnik Holding, die ihr Geld weltweit mit Keramik, Glas, Erden, Zement verdient. Und darunter ist die „Raumstation“ mit 200 Quadratmeter Ausstellungsfläche. Jörg Garbrecht ist dort Direktor und zugleich Kurator der laufenden Ausstellung (zusammen mit Katharina Wenkler).

Nicht montags, wie in der Museumsbranche üblich, sondern freitags und samstags ist dieser Kunstraum mit seiner Kunststeinfassade samt eingebautem Glimmer geschlossen: Man hat genau analysiert, wer an welchen Wochentagen allein oder mit Familie in eine Galerie geht, und eben beobachtet, dass an Freitagen und Samstagen Chillen und Einkauf angesagt sind, da kann eine Ausstellung so interessant sein, wie sie will.

Eine Frage der Existenz

Das gilt auch für The World in My Hand, für diese Smartphone-Welt anhand von rund 50 Exponaten, die alle für sich allein und alle auch zusammen Geschichten erzählen wollen: von der Erfindung des Smartphones bis zur Einsicht im letzten Ausstellungsraum, „wer online nicht existiert, existiert heute überhaupt nicht“.

Aus den insgesamt 200 Quadratmetern haben die Ausstellungsarchitekten Ester Bruzkus und Peter Greenberg acht thematisch definierte und benannte Räume gemacht, das Konzept mit seiner subtilen Lichtregie ist preisgekrönt. Am Anfang steht die „Evolution“ – am Ende die „online identity“. Eine Technikgeschichte soll das nicht sein, sondern eine künstlerische Umsetzung von Geschichte und Anwendung dieses Universalwerkzeugs des 21. Jahrhunderts in der Nachfolge von Faustkeil, Dampfmaschine und Automobil. Insofern darf man sich keine enzyklopädisch fortlaufende Geschichtserzählung erwarten, sondern in jedem Raum die künstlerische Umsetzung eines Aspekts dieses neuen Lexikons, dieses Handschmeichlers und des Materials, aus dem das Smartphone besteht: Deshalb sieht man auch auf einer riesigen Luftaufnahme eine Lithiummine in der chilenischen Atacama-Wüste.

Jörg Garbrecht: „Wir sind das erste Kunstmuseum mit einer Ausstellung zum Smartphone.“ Weil diese Ausstellung nur temporär in der Blackbox der Tutsek-Stiftung zu Gast ist, haben Ester Bruzkus und Peter Greenberg eine vergängliche und recycelbare Architektur entworfen: mit Nesselstoff über einer Trägerkonstruktion für jeden Raum, mit verspiegelten Türzargen und der Möglichkeit, Exponate an die Konstruktion anzuschrauben und verschiedene Formate zuzulassen – oder einen Teil des letzten Kapitels (online identity) verschämt zu verstecken, weil es um die Frage geht, was Barbie und Ken wohl machen, wenn sie nicht zusammen sein können, etwa zu Covid-Zeiten.

Smartphone wird hier als weltweites Thema einer internationalen Gesellschaft verstanden. Damit man sich über die Künstler*innen, die dieses Thema bearbeitet haben, informieren kann, gibt es den ziemlich ungewöhnlichen Ausstellungskatalog in optischer Anlehnung an ein klassisch-analoges Telefonbuch, darin Biografien und Werkbeschreibungen von Tornike Abuladze bis Jeff Zimmer.

Poetisch verschlüsselt

Enfilade nennt man diese Reihe von Räumen in der Tutsek-Blackbox, man erinnert sich dabei auch an die langen Räume der alten Pinakotheken, von denen ebenfalls einzelne Kabinette abgehen. Hier in Münchens neuer Welt, der Parkstadt Schwabing, wo es angeblich auch 3000 Wohnungen gibt und in der sich das Navi noch immer nicht zurechtfindet, lässt man die Technik in die Kunst einziehen – hyperrealistisch, aber auch mit poetischen Verschlüsselungen, rührenden Erinnerungen an einen toten schwulen Freund oder dem Vergleich, wie sie in der Hand liegen: Wie unterschiedlich fühlen sich Faustkeil und Smartphone an, welche Spuren hinterlässt dieser Griff? Man fragt sich auch: Ist die Lithiummine in Chile tatsächlich „ein Paradiesgarten für den Ursprung des Smartphones“, wie Garbrecht meint? Und kann man die chronologische Struktur eines ganzen Jahres mit aus schwarzem Glas geschnittenen Pseudosmartphones darstellen? Also: jeden Tag in meiner Hand? (Uwe Mitsching)

Information: Bis 31. Oktober. Blackbox, Georg-Muche-Straße 4, 80807 München. atstiftung.de

 

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