Es wirkt wie ein Déjà-vu. Als Mariss Jansons 2013 diesen Preis verliehen bekam, war er 70 Jahre alt. An diesem Sonntag begeht auch Simon Rattle seinen 70. Geburtstag, und wie jetzt verkündet wurde, wird ihm nun dieselbe Ehre zuteil. Am 17. Mai wird dem britisch-deutschen Dirigenten im Münchner Prinzregententheater der Ernst-von-Siemens-Musikpreis verliehen. Er gilt als Nobelpreis der Klassikwelt.
Seit 2023 wirkt Rattle als Chefdirigent von Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks (BR): als Nachfolger des 2019 verstorbenen Jansons. Mit dem Siemens-Musikpreis wird das Lebenswerk von Rattle gewürdigt, und das hat es in sich. Von Beginn an pflegt der am 19. Januar 1955 in Liverpool geborene Dirigent ein unerhört breites Repertoire. Es reicht von der Alten bis zur Neuesten Musik, quer durch alle Genres. Noch dazu integriert Rattle in seine Interpretationen selbstverständlich Kenntnisse der historischen Aufführungspraxis.
Ein Kommunikator, der an seinem Kurs festhält
Woher er das alles hat? „Ich bin ein altes Nikolaus-Harnoncourt-Baby. Und ich bin ein altes Pierre-Boulez-Baby“, verriet Rattle Mitte November in Tokio während der großen Asien-Tournee der BR-Symphoniker. Von dem 2016 verstorbenen Originalklang-Pionier Harnoncourt hatte Rattle einst wesentliche Impulse für eine historisch informierte Sicht aufgesogen. Und Boulez? Auch der ebenfalls 2016 verstorbene Komponist und Dirigent hat Hörgewohnheiten aufgebrochen, allerdings durch die Moderne. Sein glasklar-luzider Bayreuther „Jahrhundert-Ring“ von 1976 klingt bis heute nach. Als einer der Ersten koppelte Boulez zudem in seinen Programmen sinnstiftend das Erbe mit der Moderne.
Diese Art der Programmierung inspirierte Rattle frühzeitig, und zwar schon beim City of Birmingham Symphony Orchestra (CBSO). Beim CBSO startete Rattle ab 1980 als Erster Dirigent, um dort von 1990 bis 1998 als Chefdirigent zu wirken. „Wir haben so viele Sachen gewagt, und an einem Punkt haben wir einen reinen Beethoven-Zyklus realisiert. Es gab viele Zuschriften von Menschen, die das bedauerten.“ „Nur Beethoven? Habt ihr nicht interessantere Ideen?“, habe die Kritik gelautet. Rattles Fazit: „Es geht darum, einen Weg zu finden, dass die Leute einem vertrauen.“ Man müsse Geduld aufbringen. „Aber die Idee, mit dem Programm eine Geschichte zu erzählen, das ist der springende Punkt.“
In diesem Sinn ist Rattle als Dirigent ein veritabler Geschichtenerzähler. Ein Kommunikator ist er allemal, und mit diesem Profil hat Rattle auch in der Musikvermittlung bereits bleibende Maßstäbe gesetzt. Das zeigt allein ein Blick zu den Berliner Philharmonikern, wo Rattle von 2002 bis 2018 als Chefdirigent wirkte. In seiner Amtszeit startete die bahnbrechende „Digital Concert Hall“ im Internet. Mit dem legendären Strawinsky-Projekt Rhythm is it! von 2003 wurde wiederum die soziale „Education“ im deutschen Sprachraum völlig neu gedacht. Das alles ist Grund genug, Rattle mit dem renommierten Siemens-Musikpreis zu würdigen.
Beim BR-Symphonieorchester in München kann Rattle das eigene Sein und Wollen zielgenau bündeln. Da ist die musica viva: Mit der traditionsreichen hauseigenen Reihe für Neue Musik haben die BR-Symphoniker die Moderne weiterentwickelt und Musikgeschichte geschrieben. Kein BR-Chefdirigent hat sich bislang derart aktiv für diese Reihe eingesetzt wie Rattle, und auch der BR-Chor wird konzis eingebunden. Gleichzeitig bauen Rattle und die BR-Symphoniker gegenwärtig ein eigenes Originalklang-Ensemble auf, mit historischen Instrumenten.
Auch in der Musikvermittlung geht es voran, aber: Hier stößt das Engagement Rattles an Grenzen. Der Grund ist eine fehlende dauerhafte Heimat für das BR-Symphonieorchester und ein modernes Konzerthaus in München, das diesen Namen verdient und zeitgemäß ausgestattet ist. Über ein neues Konzerthaus wurde schon vor 20 Jahren diskutiert, als Jansons in München als BR-Chefdirigent wirkte. Es soll kommen, im Werksviertel hinter dem Ostbahnhof, doch wann die Arbeiten konkret starten, steht nicht fest. Bislang gibt es nur Absichtserklärungen.
Kontrapunkt zu Nachrichten über Münchner Kulturmurks
Gleichzeitig hat die Generalsanierung der alten Gasteig-Philharmonie noch nicht begonnen. Wann sie wiedereröffnet werden kann, auch das steht bislang völlig in den Sternen. Als solide Interimsspielstätte fungiert die Isarphilharmonie, die aber als dauerhafte Heimat für große Sinfonieorchester nicht taugt.
Und der altehrwürdige Herkulessaal in der Münchner Residenz? Auch der ist marode und wartet auf eine Sanierung. Am vergangenen Wochenende stand hier ein Konzert der BR-Symphoniker unter Herbert Blomstedt an. Das Publikum musste kurzerhand nach Hause geschickt werden: wegen eines fehlerhaften Alarm-Warnlichts, das sich nicht ausstellen ließ.
So kommt die Auszeichnung Rattles mit dem Siemens-Musikpreis genau zur rechten Zeit, denn: Glanzvolle, positive Nachrichten trösten über die desolate Infrastruktur in der Musik- und Orchestermetropole München hinweg. Das ändert freilich nichts an der abgrundtief peinlichen Situation. Über den Konzert- und Kulturmurks in München wird inzwischen weltweit berichtet. (Marco Frei)
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