In den Räumen herrscht Schatzkammer-Dämmerung und von nachtblauen Wänden strahlen sie einem entgegen wie Preziosen: Gemälde aus dem Florenz des 15. Jahrhunderts. Diese Inszenierung spielt darauf an, dass die florentinische Malerei der Renaissance längst ein Mythos ist – und nicht nur ein kunsthistorischer. Bezeichnenderweise haben Fachbegriffe wie „Disegno“ oder „Quattrocento“, die eng mit dieser Malerei verbunden sind, die Hokuspokus-Qualität von Beschwörungsformeln angenommen, ja gar die Funktion von Codewörtern, mit denen man seine Zugehörigkeit zur Kultur- und Bildungskaste bekundet.
Begründet scheint der Mythos letztlich darin, dass in der florentinischen Kunst dieser Zeit erstmals und besonders deutlich jener anthropozentrische Geist bildhafte Gestalt gewinnt, der eine
Epoche prägt, die bis heute andauert: die Neuzeit.
Nur sehen, was man weiß
Aber wie es mit Mythen manchmal so ist, sie können gerade wegen ihres beachtlichen Erklärungspotenzials auch den Blick verstellen, weil sie eine festgelegte Perspektive anbieten, von der kaum einer noch abzuweichen vermag. Und so läuft der Betrachter Gefahr, gemäß dem Goethe-Wort „Man sieht nur, was man weiß“, die Kunstwerke bloß noch als Belegstellen zu „lesen“ für all die sattsam bekannten Merkmale der florentinischen Quattrocento-Malerei, die zu den meistbeforschten Gegenständen der Kunstgeschichte gehört.
Die Entdeckung der exakten Zentralperspektive zählt ebenso zu diesen Merkmalen wie der Realismus, genauer die „Welthaltigkeit“ und Wirklichkeitszugewandtheit einer immer säkulareren, von religiösen Bindungen sich lösenden Kunst.
Unverzichtbar in der akademischen Frührenaissance-Folklore ist auch der Hinweis auf das „Disegno“, also den klaren Umriss, die zeichnerische Linearität als Spezifikum der florentinischen Malerei.
Des Weiteren darf nie die Feststellung fehlen, dass der jetzt auch anatomisch, also von innen her verstandene menschliche Körper bei den Renaissancekünstlern eine ganz neue Erdenschwere und wahrhaft leibliche Standfestigkeit im Raum bekommt, statt, wie noch im Spätmittelalter, als knochenloses Gespenst über die Bildfläche zu schweben.
Üppiger Überblick
Dass vor diesem Hintergrund eine Ausstellung über Florenz und seine Maler heute offene Türen einrennt, ist indes kein Makel, sondern ein Vorzug. Man muss die Alte Pinakothek preisen für diese Schau, mit der, nach jahrelanger energetischer Sanierung, jetzt fast das gesamte Haus wieder eröffnet ist. Bemerkenswert wäre ja schon die Leistung, heute, da Alte Meister kaum mehr reisen, eine Fülle hochkarätiger Leihgaben bedeutendster Museen in aller Welt zusammenzubringen – von London über Washington bis zu den Florentiner Uffizien.
Am wichtigsten aber ist, dass, wohl ungewollt, durch solche üppigen Überblicks-Ausstellungen des allzu Bekannten eine
Art energetische Sanierung unseres Blicks erfolgen kann. Fegt nicht der plötzliche Überdruss am Vertrauten den Wissensballast hinweg, der unsere Bereitschaft verschüttet hat, sich anspringen zu lassen von der ursprünglichen Vitalität dieser Kunst? Von einer Vitalität des in jedem Sinne Unerhörten, die uns auffordert, die beflissene Bildungshuberei zu suspendieren und das Unerhörte wirklich wahrzunehmen, statt es bloß als historische Behauptung zu neutralisieren.
Auf diese Spur scheint der augenzwinkernde Anachronismus des Ausstellungsplakats setzen zu wollen. Es „ergänzt“ Filippino Lippis 1485 entstandenes Porträt eines jungen Mannes durch eine silberglänzende Sonnenbrille, in der sich die Silhouette von Florenz spiegelt. „Ich bin stolz, reich, eitel“, sagt uns dieses Gesicht eines florentinischen Playboys ganz unbefangen, das prototypisch die Renaissancemenschen als Ferrari-Fahrer der Weltgeschichte vorstellt. Dieses im metaphorischen Sinn „neureiche“ Daseinsgefühl hatte mit einer fast paganen Selbstverständlichkeit damals die Unschuld des Authentischen, während es heute nur noch als halbseidene Attitüde ins Lächerliche spielt. (Alexander Altmann)
Information: Bis 27. Januar. Alte Pinakothek, Barer Straße 27, 80333 München. Di. 10-20 Uhr, Mi. bis So. 10-18 Uhr. www.pinakothek.de
Abbildungen:
„David als Sieger“ (um 1465/70) von Antonio Pollaiuolo. (Foto: BPK/Gemäldegalerie, SMB/Jörg P. Anders)
„Bildnis eines jungen Mannes“ (um 1480/85) von Filippino Lippi. (Foto: National Gallery of Art, Washington, Andrew W. Mellon Collection)
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