Es ist das typische Schicksal des „Dazwischenseins“ – zwischen den Orten und den Zeiten, das im Hallertauer Heimat- und Hopfenmuseum in Mainburg nachzuvollziehen ist. Eine Ausstellung dort erinnert an Albert Scharf (1788 bis 1860): Dieser war Altbayer, stammte aus Mainburg, und wanderte nach London aus. Doch auch nach Jahrzehnten dort fühlte er sich nicht angenommen. Und als er dann für einige Zeit in die alte Heimat zurückkehrte, merkte er, dass man ihn dort ignorierte – man kannte ihn ja
kaum noch, war er doch schon als 19-Jähriger Frankreich und dann eben nach England gereist. Zudem kam er aus der beschaulichen Provinz und es zog ihn in den Moloch Großstadt.
Als Künstler war er ein übergenauer Zeichner, der mit seiner Beherrschung der Lithografie auf der Höhe der Zeit war – doch in London hing man der Zeit hinterher, zumindest war diese Technik des Steindruck anging. Passioniert beobachtete Scharf, wie sich London in schwindelerregendem Tempo zur führenden Industriemetropole wandelte. Ganz auf der Höhe seiner Zeit interessierte er sich für die Menschen und die Maschinen – und nicht für die Royals und pittoresk geschönte Arbeiterwelten. Er hatte einen nüchternen Blick: Geradezu wie Vorläufer von sachlichen Dokumentarfotografien nehmen sich seine Ansichten von Abbruch- und Neubauprojekten, von Arbeiten an Gas- und Abwasserleitungen oder vom Tun auf Baustellen aus. Doch wer teilte seine Begeisterung für solche Motive aus der nackten Wirklichkeit schon – und würde für solche Bilder zahlen? Ohnehin war Scharf ein lausiger Geschäftsmann – arbeitete weit unter Preis, ließ sich runterhandeln auf Hungerlöhne.
Erfolg mit Giraffen
Als der Zeichner eines Tages eine Mappe mit Motiven aus dem Londoner Zoo vorlegte, war das dann schon was anderes. Das war reinste Exotik – der Zoo war nämlich noch für die Öffentlichkeit verschlossen. Und gerade sein nettes Arrangement von Giraffen begeisterte: Innerhalb von zwei Wochen hat er 500 Lithografien mit diesem Motiv verkauft.
Seine Zoo-Mappe war in höchsten Kreisen beliebt: das britische, das preußische und das bayerische Könighaus bestellten bei ihm. Aber so ein Verkaufsschlager blieb eine Eintagsfliege.
Nicht an dieser Art von geschmäcklerischer Illustration waren die vielen Wissenschaftler interessiert, die sich in London, dem Zentrum der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert, tummelten – aber schnell machte sich Scharf bei ihnen doch einen Namen: So präzise Zeichnungen von geologischen Formationen, mineralischen Strukturen, Knochen und Organen konnte kein anderer anfertigen. Selbst für Charles Darwin arbeitete er – zahlte aber ein weiteres mal drauf, weil er auf eigene Kosten den Druck ein zweites Mal bewerkstelligen musste.
Der Tod seines Bruders führte ihn zurück nach Bayern. Dank einer Erbschaft konnte er fast zwei Jahre bleiben: sein Weg führte ihn nicht nur nach Mainburg, sondern auch nach München und Regensburg. In München zeichnete er Szenen aus dem Alltag der „kleinen Leute“. Er stellte zwar im dortigen Kunstverein aus – aber mehr als das königliche Wohlgefallen hat er nicht eingeheimst. Da war der Prinz von Thurn und Taxis in Regensburg schon spendabler: 160 Gulden soll er für fünf englische Motive gezahlt haben. Das verlängerte Scharfs Aufenthalt dort, währenddessen er ein fast dreineinhalb Meter langes Stadtpanorama malte.
Aber es blieb dabei: Scharf konnte in Bayern keinen Fuß fassen. Zurückgekehrt nach London, ging das so weiter: niemand gab ihm mehr Aufträge, kaufte ihm etwas ab – selbst die großen Ansichten aus Bayern wollte niemand. Das lähmte – mit Scharfs Begeisterung fürs skizzierende Beobachten in Londons Straßen war es dahin. Schließlich zogen auch noch Sohn und seine Ehefrau aus.
Seine kleine Pension aus einem Künstlerfonds reichte nicht – ein früherer Kunde von ihm wurde sein Altersmäzen: Richard Owen, neben
Charles Darwin eine der Koryphäen in der Londoner Wissenschaftlerszene, betreute die naturhistorische Sammlung des British Museums und gab Scharf allwöchentlich 1 Guinee. War es nur ein Pro-forma-deal, der das Selbstbewusstsein des verarmten Künstlers stärken sollte? Scharf sollte für das Geld nämlich jeweils 1 Motiv aus dem Museum zeichnen – egal was.
Rund 1500 Arbeiten von Johann Georg Scharf sind heute in der Datenbank des British Museums verzeichnet – freilich sind nicht alle 1-Guineen-Ergebnisse. Nach Scharfs Tod verkaufte seine Witwe dem Museum über 1000 Zeichnungen, sein Sohn George übergab später weitere 200 Arbeiten. Auch in anderen Museen der Stadt finden sich Scharfs Bilder – die Panoramabilder von München, Regensburg und des Donautals bei Donaustauf zum Beispiel in der British Library.
Skizzen aus dem Alltag
Dass gerade diese großen Gemälde einstmals Kunstconnaisseurs nicht das Portemonnaie zücken ließen, ist nicht sehr verwunderlich – da gab es einfach begnadetere Künstler. Was aber tatsächlich den Ruf Johann Georg Scharfs als posthum verkannt geadelten Künstler ausmacht, ist dieses üppige Konvolut von Skizzen aus dem Alltag einer Stadt im radikalen Umbruch. Aus einigen dieser kleinen Blätter sind tatsächlich auch große Gemälde geworden.
Der Kreis schließt sich: Zwei dieser Arbeiten, Ansichten der im Bau befindlichen New London Bridge, hängen heute im Mainburger Heimatmuseum. Johann Georg Scharf hatte sie zum Abschied seiner alten Heimatstadt – nein, natürlich nicht verkauft – geschenkt. Dort sind inzwischen auch als Dauerleihgaben aus Privatbesitz eine Reihe von Porträts, die der Künstler in jungen Jahren gemalt hatte.
Die Kuratorin der Ausstellung, Brigitte Huber, hat eine schön illustrierte und umfassende Monografie über diesen heute zwar nicht mehr verkannten, aber zu unrecht noch immer weitgehend unbekannten Künstler herausgegeben. Mehr als ein Blick und ein Klick wert ist auch die Online-Datenbank des British Museums. (
Karin Dütsch)
Abbildungen (von oben/British Museum):
Verlegen von Gasleitungen in London (1834)
Giraffen mit ihren arabischen Betreuern: Motiv aus Scharfs Serie mit Ansichten aus dem Londoner Zoo (1836)
Schädel eine "Toxodon": Illustration für Charles Darwins The Zoology of the Voyage of H.M.S. Beagle ... (1836)
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