Kultur

Den Rückflug von Warschau nutzte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) als Bühne für einen Monolog vor der mitreisenden Presse. (Foto: BSB Bildarchiv/Volker Hinz)

31.10.2024

Gespür für besondere Momente

Die Bayerische Staatsbibliothek in München zeigt Bilder aus der Sammlung des letzten festangestellten „Stern“-Fotografen Volker Hinz

Tuscheln“, sagt Kuratorin Henriette Väth-Hinz zu diesem Ausstellungsthema mit einem ikonischen Motiv: Da stecken die einstigen CDU-Granden Rainer Barzel, Georg Leber, Walther Leisler-Kiep und weitere Parteikollegen eng die Köpfe zusammen und sprechen sich für das Misstrauensvotum 1974 gegen den SPD-Bundeskanzler Willy Brandt ab. Wie hat es der Fotograf bloß geschafft, so unmittelbar auf Tuchfühlung zu gehen? Man meint, er sei gar selbst einer der Tuschelrunde. Mit versteckter Kamera lief damals in Bonn sicher nichts – Schlagschatten an der Wand lassen Blitzen deuten, unbemerkt blieb das nicht. Aber keiner der Politiker beachtet den Fotografen oder scheint gar zu befürchten, dass ein heimlicher Lauscher unter ihnen ist.

Ganz „hinznah“

„Hinznah“ war einst ein geflügeltes Wort in der Fotografenszene, es stand für eine heute kaum mehr vorstellbare und vor allem ungekünstelte Nähe eines Fotografen zu Prominenten aus Politik, Sport und Showbiz. „Hinznah“ war charakteristisch für Volker Hinz (1947 bis 2019). Er zeigte, wie sich der SPD-Kanzlerkandidat Hans-Jochen Vogel 1983 beim Geschirrabtrocknen anstellte, sah zu, wie Kanzlergattin Loki Schmidt 1974 in praktischem Hausfrauenlook Wäsche aufhängt, er durfte den einstigen CDU-Generalsekretär Heiner Geißler beim Rasieren fotografieren, er folgte Pelé und Franz Beckenbauer nach einem Fußballspiel bis in den Mannschaftsduschraum wo er sie nackt ablichtete – ein legendäres Foto, das in der aktuellen Ausstellung EinBlick aber nicht zu sehen ist: In der Bayerischen Staatsbibliothek (BSB) München geht es nämlich primär um Motive aus dem politischen Leben – damit begann nämlich die Karriere von Volker Hinz.

Der Letzte seiner Art

Es gibt Serien nach dem Motto „Die Letzten ihrer Art“, die zumindest in Wort und Bild festzuhalten versuchen, was droht, unwiederbringlich verloren gegangen zu sein, wenn diese Porträtierten samt ihres Wirkens nicht mehr sind. Staunen und Wehmut rufen solche Dokumentationen hervor. Im Prinzip ist das auch so bei der BSB-Ausstellung, erinnert sie doch an einen der großen deutschen Fotografen und seine besondere Intuition für den besonderen Moment, und obendrein an die Glanzzeiten der Illustrierten, die sich diesem Genrebegriff noch verpflichtet fühlten: Als Volker Hinz 2013 aus dem aktiven Berufsleben ausschied, war er der letzte festangestellte Fotograf des Stern. 1974 hatte er dort seine Arbeit begonnen, als noch über 20 Fotografen ihr festes Gehalt beim einstigen Leitmediums bezogen.

„Man muss im Journalismus das Geld zum Fenster rauswerfen, um es durch die Tür mit der Schubkarre wieder reinzuholen“, zitierte Henriette Väth-Hinz, die Witwe des Fotografen, bei der Ausstellungseröffnung in München den Gründer, einstigen Herausgeber und Chefredakteur des Stern, Henri Nannen. Der Stern hatte zu Volker Hinz Zeiten noch 260 Seiten – er durfte immer Doppelseiten belegen. Es war auch noch die Zeit, als Promis die journalistische und fotografische Nähe direkt suchten und sie fürs Image einen Abdruck im Stern hoch schätzten. Heute wird, wenn nicht gar abgeschirmt, argwöhnisch Distanz gewahrt, und man postet lieber Selfies in sozialen Netzwerken.

Jenseits offizieller Posen

Volker Hinz genoss Vertrauen – man erlaubte sich vor ihm Momente auch ohne offizielle Pose und des Gehenlassens. Bis in die schlaffe Sitzhaltung hinein möchte man aus Willy Brandts Ausdruck Erschöpfung gepaart mit unbeugsamer Nachdenklichkeit herauslesen: Volker Hinz beobachtete ihn beim Parteitag 1983 in Hamburg – das Jahr stand im Zeichen der Kontroversen innerhalb der SPD um die Beurteilung unter anderem der Sicherheitspolitik (Nato-Doppelbeschluss) und der Abrechnung mit dem ein Jahr zuvor per konstruktivem Misstrauensvotum entmachteten Bundeskanzler und Parteikollegen Helmut Schmidt. Das Sagen im Bundeskanzleramt hatte inzwischen ohnehin Helmut Kohl (CDU). Ob Imageberater heutzutage noch ein Foto Kohls ohne juristische Intervention durchgehen lassen würden, das ihn als Wahlkämpfer 1976 eingerahmt von zwei Pferdehintern zeigt? Vielleicht hätte er aber über das Foto genauso gelacht wie er es in dieser Situation tat?

Es musste seine Art und sein Humor gewesen sein, die sich oft auf die Fotografierten übertrugen – von „Gegenübern“ mag man nicht sprechen, viele der festgehaltenen Situationen lassen eher von einer unausgesprochenen Partnerschaft ausgehen. So etwa, wenn sich Ex-Bundesarbeitsminister Norbert Blüm am Rande der Fernsehquizshow Was bin ich 2001 lachend jedes seiner Augen mit einem Fünf-Mark-Stück bedeckt. Oder wenn 1972 der russische Außenminister Andrei Gromyko sich einfach Hinz’ Kamera zum „Gegenschuss“ auf den Fotografenschwarm schnappt – Volker Hinz hatte natürlich noch weitere Kameras einsatzbereit und hielt auch diesen Augenblick vertauschter Rollen fest.

Immer wieder fotografierte er von der Presse umringte Promis: Das sind geradezu entlarvende Szenen eines Schauspiels – wenn etwa der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder in einem Flugzeug 1999 lässig mit großer Geste deklamiert und die Journaille die schweigende Statistenrolle übernimmt, oder wenn Helmut Kohl 1994 in Washington quasi das Zepter in die Hand nimmt und mit gebieterischem Fingerzeig den renommierten WDR-Auslandskorrespondenten Werner Sonne samt Kameramann zu dirigieren scheint.

Retuschieren verpönt

Volker Hinz hatte Spürsinn für den Zeitpunkt – bisweilen hielt er aber auch einfach drauf und ließ die Kamera „rattern“: Kontaktbögen zeigen zig Motive aus einer Rede von Herbert Wehner (SPD) – Volker Hinz wählte erst später seine Favoriten aus, wie man auf überdimensional reproduzierten Kontaktbögen in der BSB-Ausstellung sieht. „Das Technische war nicht so sein Ding“, sagt Henriette Väth-Hinz, „die Kameras mussten einfach funktionieren.“

Was aber gar nicht ging: Retuschieren. Und genau das macht seine Aufnahmen so authentisch – ja, manches vermutlich unbeabsichtigtes „Beiwerk“, das heute in Nullkommanichts in der digitalen Bearbeitung verschwinden würde, gibt den Motiven eine besondere erzählerische Note. Um nur eines aus der Bilderflut herauszunehmen: Bundesjustizminister Hans Jochen Vogel 1983 vor einer Bürotür, eine Frau will ihm einen Kuchen mit Kerze überreichen, links ragt fast störend eine Hand mit Armbanduhr am Handgelenk ins Bild – das mag den eher ungnädigen, fast gehetzten Ausdruck Vogels erklären: Er hatte keine Zeit für irgendwelche Gratulationen. Eine solche Szene ist eben nicht gestellt und nachträglich nicht „geschönt“.

Profi im Selbststudium

Profifotograf war der gelernte Elektromechaniker im Flugzeugbau Volker Hinz im Selbststudium geworden. Dazu gehörte auch eine reichhaltige Sammlung von Bildern unterschiedlicher Druckquellen: Sie zeigen zum Beispiel Hand- und Kopfhaltungen – „die studierte er mitunter zur Vorbereitung von Aufträgen“, erinnert sich Väth-Hinz. Tatsächlich: Hände setzte Hinz gerne in Szene, unterstreichen sie doch in der festgehaltenen Bewegung den Augenblick ebenso wie das „Hintergründige“ – etwa den emotionalen Ausdruck bei Interviews wie mit Jassir Arafat, dem einstigen Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde im Exil (1988). Dann wieder sind sie geradezu dramatisch beleuchtet als Stillleben ins Bild gesetzt, wie sie eine Zigarette und gleichzeitig eine Serviette beziehungsweise ein Papiertaschentuch als Aschenbecherersatz halten – vor feinem tiefdunklem Nadelstreifenanzug, an dessen Revers gleichermaßen hell der Button „Ich bin ein unanständiger Deutscher“ leuchtet. Das Foto entstand auf der SPD-Präsidiumssitzung 1983, der Button war eine Reaktion auf Heiner Geißlers auf die SPD gemünzter Satz: „Wer diese Partei wählt, ist ein unanständiger Deutscher.“

Suggestive Ausschnitte

Das Foto steht für Zweierlei in Hinz’ Œuvre: Den Blick fürs Detail und für das, worüber seine Witwe sagte: „Er erfüllte nicht nur Aufträge. Prinzipiell schaute er auch nach rechts und links“. Was den besonderen, geradezu radikal-suggestiven Ausschnitt angeht, sei auch ein Foto von Willy Brandt in der Marc-Chagall-Halle der Knesset in Jerusalem erinnert (1973): Geradezu winzig erscheint der Kanzler am unteren Bildrand, so, als wäre er Teil des jüdischen Volkes, das aus dem Exil ins gelobte Land zieht – übermächtig dagegen Moses mit den Gesetzestafeln auf diesem der drei Wandteppiche von Marc Chagall.

Das Nach-rechts-und-links-Schauen jenseits der Aufträge: Das lässt sich auch in jenem Ausstellungsteil beobachten, der Hinz’ Reisen in das sich damals vage öffnende China reflektiert. Er begleitete schon 1972 Außenminister Walter Scheel zur Eröffnung der deutschen Botschaft nach Peking, ein Jahr später machte er dort Fotos von der ersten deutschen Wirtschaftsdelegation – auch beim feuchtfröhlichen Feiern mit chinesischen hochrangigen Gastgebern: „Solche Motive hätten in China nie offiziell gezeigt werden dürfen“, sagt Henriette Väth-Hinz. „Nebenbei“ machte der Fotograf Bilder auf den Straßen im Reich der Mitte: Dicker Smog hängt über den Häusern, am Straßenrand sitzt ein kleiner Junge unter einem Baum und hält eine Spielzeugpistole.

Mit echten Waffen dagegen üben Kinder in Alabama/USA bei Veranstaltungen des Ku-Klux-Klan – den „KKK“ hat Volker Hinz fotografisch beobachtet, als er acht Jahre lang in Amerika als Auslandskorrespondent lebte. Entsprechende Bilder sind in der BSB-Ausstellung ebenfalls thematisch akzentuiert, ebenso wie Motive aus dem amerikanischen Wahlkampf 1980.

Rund um den Globus

„Er war immer unterwegs“, fasst Henriette Väth-Hinz das Berufsleben ihres Mannes zusammen. „Früher waren selbst sechs Wochen Auslandsaufenthalt für eine Reportage möglich“ – heute frei arbeitende Fotografen wird Wehmut packen angesichts der massiven Umwälzungen in der Medienbranche und aktueller Arbeitsbedingungen. Das „besondere Foto“ von Profis tut sich heute schwer – überall steht schon ein Laie mit seinem Handy bereit. Solche Motive kursieren blitzschnell im Netz – wer braucht sie noch gedruckt? Fotografen versuchen ihr Glück in Galerien mit gerahmten Drucken und mit kunstvollen Fotobildbänden. Bücher hat Volker Hinz übrigens nicht gemacht – „wieso denn, ich werde doch sowieso gedruckt“, zitiert ihn seine Witwe. Sie hat allerdings mit dem Katalog zur BSB-Ausstellung posthum einen dritten Band mit Fotos ihres Mannes herausgegeben: eine gebührende Bühne für Volker Hinz’ über den Tag hinaus gehende und nicht per schnellem Klick zu betrachtende Fotografien. (Karin Dütsch)

Information: Bis 2. Februar. Bayerische Staatsbibliothek, Ludwigstraße 16, 80539 München. www.bsb-muenchen.de

Abbildungen (von oben):

Willy Brandt auf einem SPD-Parteitag in Hamburg 1983. Das Kanzleramt hatte seine Partei bereits an die CDU verloren, die SPD selbst kämpft intern mit der Neupositionierung. (Foto: BSB Bildarchiv/Volker Hinz)

Stolz nahm Bayerns Ministerpräsident Franz Josef Strauß 1980 im texanischen Houston die Ehrendoktorwürde an. (Foto: BSB Bildarchiv/Volker Hinz)

Volker Hinz hatte immer die Kamera griffbereit und hielt viele Motive jenseits offizieller Aufträge fest. Dieses Foto entstand 1990 nach der Wende an der Berliner Mauer. (Foto: BSB Bildarchiv/Volker Hinz)

 

 

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