Worin besteht der Unterschied zwischen Text und Bild? In den frühesten Ausdrucksformen des Menschen, etwa den älteren Hieroglyphen, gab es keinen: Vereinfachte Bildzeichen waren wie Buchstaben auf Zeilen oder in Reihen angeordnet. In den heutigen digitalen Medien kann man beides unter dem Begriff Zeichensystem zusammenfassen. Handgeschriebene oder gedruckte Bücher wiederum enthielten zu allen Zeiten bisweilen großartige Bilder, also Illustrationen, die von manchen Kunstliebhabern unterschätzt werden, aber zu den bedeutendsten Werken der Kunstgeschichte zählen, beispielsweise die Bibeln von der Insel Reichenau um das Jahr 1010.
Den kreativen Umgang mit Texten durch heutige Illustratorinnen und Illustratoren will das neu gegründete Forschungs- und Lehrprojekt „Illustrators in Residence“ erforschen, das an den Universitäten Duisburg-Essen, Bamberg und Eichstätt beheimatet ist. Es geht um Bücher für Kinder: um Bilderbücher, Comics und Graphic Novels, also grafische Romane.
Ziel der Forschung ist es, den Weg der Entstehung der Buchwerke, ihren gesamten geistigen Hintergrund und die Möglichkeiten des pädagogischen Umgangs mit ihnen zu erschließen. Das geschieht in Seminaren und einer Veranstaltungsreihe, zum Teil online, deren Ergebnisse am Ende in verschiedenartige Publikationen eingebracht werden.
Fontanes Schiffsdrama
In den literaturwissenschaftlich, medienwissenschaftlich und literaturdidaktisch ausgerichteten Seminaren reflektieren die Studierenden Möglichkeiten des Umgangs mit den Bilderbüchern und erhoffen sich spannende Einblicke in die künstlerische Praxis der Hersteller sowie die Berufswelt der Kunst- und Literaturvermittlung.
Beim Bilderbuch John Maynard nach der Ballade von Theodor Fontane zum Beispiel analysierte ein Seminar die sprachlichen Mittel der Erzählung, ihren Aufbau, die historischen Hintergründe, das Verhältnis des Textes zu den Illustrationen und Fragen der Vermittlung an die junge Leserschaft.
Dazu erklärte in einer ersten Folge der Veranstaltungsreihe der Illustrator Tobias Krejtschi im Rahmen einer Zoom-Konferenz seine Auffassung von der Maynard-Geschichte und seine Arbeitsweise. Fontanes Ballade erschien erstmals 1886 und geht auf einen Vorfall aus dem Jahre 1841 zurück, bei dem ein motorisiertes Passagierschiff auf dem nordamerikanischen Eriesee in Brand geriet, wobei 180 Menschen umkamen. Fontane hingegen lässt sie durch den heldenhaften Einsatz des Steuermanns John Maynard, der sich selbst opfert, überleben. Mit kräftigen Farben und dynamischen, großformatigen Bildern hat Tobias Krejtschi Maynards Kampf mit den Elementen Feuer, Wasser und Wind sowie die Gefühle Angst, Hoffnung und schließlich Trauer ins Bild gesetzt: „Das Schiff geborsten. Das Feuer verschwelt. Gerettet alle. Nur einer fehlt!“, heißt es gegen Ende der Ballade.
Es wird klar, dass durch das meisterhaft gestaltete Bilderbuch ein Kind die formulierten Inhalte im wahrsten Sinne des Wortes „begreifen“ kann. Der feste Umschlag, die schweren Buchseiten und die schier unverwüstliche Bindung bilden eine solide Grundlage für die großzügigen, gemäldeartig und expressiv gestalteten Illustrationen, die Kinder und Erwachsene beeindrucken.
Ähnlich verhält es sich mit dem Bilderbuch von der Brück’ am Tay. In dieser Ballade setzte sich Fontane wieder mit dem Scheitern des Menschen und seiner Technik angesichts übermächtiger Naturgewalten auseinander – ein nach wie vor hochaktuelles Thema. Ein ganzer Schnellzug war 1879 von einer schottischen Eisenbahnbrücke mit allen Passagieren in die Tiefe gestürzt. Was Fontane in nur zwei Versen dramatisch konzentriert ausdrückt – „und jetzt, als ob Feuer vom Himmel fiel’, / erglüht es in niederschießender Pracht“ –, erhält auf einer großformatigen Doppelseite im Buch durch den Künstler Krejtschi geradezu epische Breite. Die Spannung, die hier erzeugt wird, könnte kaum größer sein.
Meine Mutter, die Fee wirkt zunächst wie ein harmloses Kinderbuch. Bald aber wird deutlich, worum es der Autorin Nikola Huppertz geht: Das Tabu-Thema Depression steht im Fokus. Mit Anteilnahme verfolgte das Publikum beim Zoom-Vortrag von Tobias Krejtschi, wie sensibel dieser sich dem Text angenähert und ihn malerisch ausgestaltet hat. Einige Studien und Vorzeichnungen waren nötig, um in die Melancholie der weiblichen Hauptfigur einzudringen und letztlich tröstend zu wirken. Ein Buchtrailer ist unter der Homepage der Autorin verfügbar.
Weltweit vertrieben
Unter anderem mit dem schwierigeren Thema Tod hat sich die vielfach nominierte und preisgekrönte Kinderbuchautorin und Illustratorin Antje Damm auseinandergesetzt. Der ausgebildeten Architektin ist nach eigenen Aussagen die Wiedergabe von umbautem Raum wichtig. Ein anderes Motiv ihres Schaffens ist das Gespräch mit den jungen Leserinnen und Lesern. Dabei tauchen sehr viele Fragen auf. In der Folge ist Antje Damms bekanntes Buch Frag mich! entstanden, das in viele Sprachen übersetzt wurde. Neben den Themen Krankheit und Tod geht es darin auch um ganz alltägliche Probleme: Wer gehört zu deiner Familie? Was möchtest du gut können? Wen vermisst du? Was erforschst du? Interessanterweise durften hier die zugehörigen Nacktdarstellungen in den US-amerikanischen Ausgaben nicht abgedruckt werden.
Sehr reizvoll findet die Autorin bisweilen die ganz eigentümlichen Antworten der Kinder, zum Beispiel: „Ich glaube, es regnet, weil die Blumen Durst haben.“
Im Sommer sollen die Forschungen fortgesetzt werden, wenn der Durst der Kinder nach gemeinsamen Erlebnissen außer Haus hoffentlich auch wieder gestillt werden kann. (Andreas Reuß)
Abbildungen (von oben):
Illustration von Tobias Krejtschi (John Maynard, Meine Mutter, die Fee) und Antje Damm (Frag mich!). (Fotos: Kindermann Verlag, Tulipan Verlag, Moritz Verlag)
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