Es klingt nach abgedroschenem Marketingvokabular, wenn Jean Paul Gaultier als „enfant terrible“ der Modewelt apostrophiert wird. Die Reduzierung auf einen kindlichen Querulanten im latent unterstellten biederen Modezirkus ist eine sprachlich banale Verkennung des 62-jährigen Artisten Gaultier. Über Jahrzehnte hat er sich seinen eigenen imaginären Catwalk geschaffen, auf dem er bisweilen schwindelerregend entlangbalanciert: Er führt dort hochmeisterliche Volten aus der designenden Schneiderwerkstatt vor, lässt geniale Visionen aus seinem Künstleratelier aufblitzen. Ja, seit Gaultiers Kreationen in renommierten Museen zu sehen sind, seit er geäußert hat, sich vom Marktdruck des Prêt-à-porter zu verabschieden, gewinnt zunehmend der Künstler die Oberhand über den Modemacher.
Wenn man jetzt durch die Hypo Kunsthalle geht, kommt man sich vor, als lustwandle man durch eine Gaultier-Glyptothek. Parallel zu geradezu Alltagskleidung aus seinen Prêt-à-porter-Kollektionen, ist es ein faszinierendes Ideengebäude, das sich da auftut: Wie Pygmalion sucht Gaultier einem Bildhauer gleich, den durch gesellschaftliche Konventionen zur Skulptur erstarrten Körper zu verlebendigen:
durch animierte Schaufensterpuppengesichter, vielmehr aber durch eine regelrecht sprechende zweite Haut – nicht Kleidung als physischer Schutz, sondern als Medium für Ideen. Und zwar für Ideen, die das Körperbewusstsein von aufoktroyierter Fremdbestimmung befreien wollen.
Konterkariertes Klischee
Plakativ: das Korsett. Da macht Gaultier scheinbar zunichte, was vor gut 100 Jahren geglückt war: die Befreiung aus dem Panzer, der einerseits Körperbewegungen ihrer sinnlichen Weiblichkeit beraubte und in geziemend normierte presste, zugleich aber sexuelle Männerphantasien aufheizte und im Rückkehrschluss Frauen einbläute, dass diese Deformierung sexy mache.
Ausgerechnet ein solches Symbol der Unterdrückung machte Gaultier wieder salonfähig – aber mit anderen Vorzeichen: Mit seinen gefährlich spitzen Brustkörbchen, mal auch ebenso zackig überhöht angedeuteten Hüftknochen und Pobacken, konterkariert er das Klischee weiblicher Rundungen und straft mit kalter Dusche ab: „Finger weg!“ Frau entscheidet selbst, ob sie das Korsett als Abwehrwaffe einsetzt oder Fetisch ihrer eigenen Kraft, Unterdrückerin sein zu können. Wunderbar kokettierend zelebrierte das einst Madonna in ihren Bühnenshows, die Pop-Queen gehört ebenso wie Kollegin Kylie Minogue zu Gaultiers Musen.
Ob ein solches Korsett bequem ist, spielt primär keine Rolle: Es steht symbolhaft dafür, wie das Innerste nach Außen gekehrt wird, wie Intimes, Selbstverständnis öffentliches Bekenntnis werden kann. Dessous als Oberbekleidung: edel gearbeitet aus Seide, mal aus Weizen und geflochtenem Stroh, hochpräzise in plissiertes Fischgrätmuster gelegt, mit Fransen, Bändern, Schleifen und Perlen verziert, verlängert zum bodenlangen Kleid, von vergoldeten Lederriemen Käfig ähnlich umspielt.
Und: Auch Männer tragen Korsett! Zum Beispiel aus rosa Seide und fächerartig drapiert – darunter ein schlichtes Rippenunterhemd. Lässig hängt über einer Schulter eine Jacke, die in ihrer rosa Seide und mit dekorierenden Strapshaltern das Twinset komplettiert.
Natürlich ist Kleidung nicht ohne Bezug zum Geschlecht denkbar. Gaultier hinterfragt aber tradierte, einengende Konnotationen: Wer sagt, dass ein weiblicher Körper nur weiblich, ein männlicher Körper männlich ist, wenn er in das gehüllt wird, was die Mode ihm als solches vorschreibt? Röcke und Kleider für Männer – Frauen im strengen Männerhosenanzug. Gaultier hat die ersten androgynen Models auf den Laufsteg geschickt, ebenso das erste farbige Model aus Afrika, hat Marianne Sägebrecht und Beth Ditto umhüllt, die dem Modediktat wahrlich keine Normfiguren entgegensetzen.
Der Matrosenlook als Krönung der Geschlechter überwindenden Mode: Der Matrose sei ihm ein „hypersexuelles, schwules Symbol“, wird Gaultier in der Ausstellung zitiert. Dazu ein Plakat von Rainer Werner Fassbinders Film Querelle. Filme spielen eine wichtige Rolle für Gaultier: Sei es als Inspirationsquelle, sei es, weil er dafür selbst Kostüme entwirft.
Man begegnet Madonnen, Scheinheiligen und Meerjungfrauen in der Ausstellung, Punks, Heavy Metalern und edlen Wilden – Mythen, Underdogs in der Mode: From the Sidewalk zu the Catwalk ist die Ausstellung überschrieben, vom Gehsteig auf den Laufsteg. Der Modemacher ist jeder selbst – Gaultier der Inspirator, der ermutigt.
Raffiniertes Handwerk
Der Gesellschaftsbezug, die Toleranz, die Individualität in Gaultiers Modephilosophie haben Hypo Kunsthallenchef Roger Diederen begeistert und die Schau, die seit 2011 durch die großen Museen der Welt tourt, nach München holen lassen. Es ist die 100. Ausstellung der Hypo Kunsthalle, zugleich die erste mit dem Thema Mode. „Wir feiern, und dazu zieht man sich doch gerne auch festlich an“, sagt Roger Diederen stolz lächelnd über diesen Coup.
Die Schau ist ein Spektakel – Gaultiers visualisierte Körperphilosophie zieht in Bann. Nicht weniger spektakulär ist das Handwerk aus dem Hause Gaultier, das geflissentlich übersehen wird. Da kann man gewagten Materialmix studieren: Seide, Spitze, Tüll, Getreide, Krokodil-, Haifisch- und Pythonhaut, Menschenhaar, Federn, Latex, Blech – alles raffiniert verarbeitet. Selbst eine Robe aus schlichter Zopf-Strickerei erscheint wie von Künstlerhänden virtuos modelliert. Ein andermal imitieren aberzählige kleine Perlen täuschend echt ein Leopardenfell. Ein eher schlichter Punk-Schottenrock: Wie kompliziert ist es doch, das Karomuster exakt den schräg verlaufenden Stoffbahnen und aufspringenden Falten folgen zu lassen. In den Begleittafeln liest man hin und wieder, wieviele Arbeitsstunden für die Stücke aufgewendet wurden. Auch das zeigt die gesellschaftliche Vererdung von Gaultiers Körperkunst. (Karin Dütsch)
14. Februar 2016. Hypo Kunsthalle, Theatinerstraße 8, 80333 München. täglich 10 – 20 Uhr.
www.hypo-kunsthalle.de
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