Kultur

Mit wohltuenden Momenten des Innehaltens spielt Katharina Marie Schubert den jungen Karl. (Foto: Gabriela Neeb)

18.10.2024

Plumper Klamauk in brillantem Spiel

Franz Kafkas „Amerika/Der Verschollene“ an den Münchner Kammerspielen: verhunzte Interpretation, aber glänzendes Ensemble

Als Freiheitsstatue in hellgrünem Gewand dreht Philipp Plessmann auf der Bühne seine Runden. Er begrüßt das eintrudelnde Publikum, plauscht mit manchen Gästen, andere dürfen ein Selfie mit ihm machen. Damit ist schon vor der eigentlichen Aufführung die Fallhöhe dieser Kafka-Inszenierung von Charlotte Sprenger abgesteckt. Im Kafka-Jahr hat Sprenger mit Dramaturgin Olivia Ebert für die Münchner Kammerspiele aus Amerika/Der Verschollene ein Bühnenstück gemacht. Das Ergebnis ernüchtert: Aus Franz Kafkas Romanfragment und brillanter Albtraumpoesie wird ein sprachlich plumper Provinzklamauk. Aleksandra Pavlovi(´c) hat ihn passend grell, trashig, knallbunt ausgestattet. Neu ist das nicht: Auf ähnliche Weise hatte Karin Henkel im Frühjahr am benachbarten Residenztheater Kafkas Das Schloss verhunzt.

Zähne gezogen

Nun kann man sich im kafkaesken Labyrinth gewiss leicht verirren. Wie man aber den hochaktuellen, gesellschaftlich brisanten Stoffen Kafkas derart die Zähne ziehen kann, das macht ratlos. Dabei wollte Sprenger durchaus aktuelle Bezüge herstellen. So wirkte manche Szenerie und Ausstattung, auch mancher Duktus und Gestus im Spiel wie die überspannte Karikatur eines US-Wahlkampfs. In dieser Lesart wirkt Edmund Telgenkämper als Onkel des von Katharina Marie Schubert gespielten Karl wie ein Donald-Trump-Verschnitt. Passend hierzu wird auch die 9. Sinfonie Aus der Neuen Welt von Antonín Dvo(r)ák eingespielt.

Das Problem ist nur, dass es Kafka nicht so sehr um eine Turbokapitalismus- und Amerikakritik ging. Zwar wandelt Kafka in dem Fragment durchaus auf den Spuren von Charles Dickens, wie er selber im Tagebuch erwähnt, aber er hat die Parallelen zwischen Alter und Neuer Welt im Visier, und das ist schockierend. Hüben wie drüben sieht sich das Individuum einer monströsen Bürokratie und zementierten Normen ausgesetzt. Die Mitmenschen wirken jeweils wie entmenschlichte, grotesk verzerrte Marionetten eines Systems.
Im Westen nichts Neues: Das ist die eigentliche Botschaft, und das erfährt hier der 17-jährige Karl aus Prag. Von seinen Eltern wird er in die USA geschickt, faktisch verstoßen, nachdem er ein Dienstmädchen geschwängert hat.

Der von Kafka stammende Titel Der Verschollene impliziert das mögliche, unvollendet gebliebene Ende von Karl. Ein Verschollener kann nach Ablauf einer Frist für tot erklärt werden. Diese Zusammenhänge machen sich im Faschingsschwank der Regie rar. Diese Kafka-Interpretation legt nicht den Finger in Wunden, sondern ermüdet mit stupid-banalen Pointen.

Intensiver Moment

Dass man trotzdem während der knapp drei Stunden mit Pause nicht abschaltet, ist allein den einnehmenden Leistungen des Ensembles zu verdanken. Ob die wandelbare Jelena Kulji(´c) als Brunelda und Oberkellnerin oder Christian Löber als skurril-bizarrer Sackler und Robinson: Ein virtuoses Spiel im allerbesten Sinn wird da geboten. Und als Karl ringt Schubert dem Abend wohltuende Momente des Innehaltens ab.

Der vielleicht prägendste Augenblick folgt jedoch im zweiten Teil der Aufführung. Als Theresa berichtet Johanna Kappauf vom tragischen Tod ihrer Mutter als Bauhilfsarbeiterin. Wie sie das tut, vollkommen unaufgeregt, ohne Pathos oder Larmoyanz, ganz schlicht und still, sogar mit einem Lächeln auf dem Gesicht: Das bewegt und berührt. Für einen kurzen Moment atmet die Inszenierung eine unerhörte Intensität. Mehr davon wäre wünschenswert gewesen. (Marco Frei)

 

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