Kultur

Tragisches Paar: Vera Egorova als Carmen, Yinjia Gong in der Rolle des Don José. (Foto: Jochen Quast)

05.10.2016

Psychogramm eines Dorf-Tölpels

Das Regensburger Theater bringt Bizets Oper "Carmen" ohne Spanienflair

Nach dieser Premiere tauft man das Stück besser um: „Don José“ statt „Carmen“ sollte darüber stehen. Denn am Theater Regensburg hat Hendrik Müller aus Georges Bizets Welterfolg ein faszinierendes Charakterporträt gemacht: das eines jungen Tölpels vom Dorf, der zum Militär in die Stadt kommt, macht, was man ihm sagt, und nicht weiß, was er selber will. Die Soldaten schubsen ihn herum - die verführerische Carmen wiederum braucht ihn nur für ihre Flucht und parfümiert die rote Rose mit ein bisschen Intim-Odeur aus ihrem Slip: Am Ende wird sie ihm noch das Messer aufdrängen müssen, womit er sie dann in blinder Eifersucht ersticht – und sich selber gleich dazu die Kehle durchschneidet.So einen rettet auch die Schutzengel-Madonna nicht, vor der José noch während der Ouverture mit Mutter und Micaela kniet. Müller packt alles, was er für sein „Carmen“-Modell braucht, in diesen ersten Akt hinein: das faschistoide Militär als Macho-Gang, die unterdrückte Sexualität und offene Brutalität, Liebe, die nur gegen Geld zu haben ist, eine vergewaltigte Carmen – aber kein bisschen Andalusien- oder Sevilla-Flair. Claudia Doderer musste ihm ein paar verschiebbare Mauern bauen, alte Klinkerwände und modriges Beton. Ein paar Steine dazu - fertig ist das Gebirge oder der Arena-Vorplatz. Man mag das gewohnte Spanien-Ambiente anfangs vermissen. Wenn sich die vier Akte zunehmend auf die José-Tragödie zuspitzen,  akzeptiert man gerne die kahle Leere für Müllers Erklär-Impetus. Der lässt einen sogar den Tod der Mutter miterleben, den Spott, den alle über das arme Würstchen José ausschütten – bis hin zum Kinderchor. Der schwache Mann zwischen starken Frauen: das hat Müller interessiert, und das bringt er interessant, am Ende faszinierend auf die Bühne. Und findet in Yinjia Gong einen in früheren Regensburger Aufführungen eher neutralen Darsteller, der dieses Konzept eins zu eins umsetzt: darstellerisch bis ins Detail absolut glaubhaft, stimmlich brillant. Ohne alle Carmen-Schablone liebt und kämpft Vera Egorova in der Titelpartie mit diesem Mann und ihrem Schicksal: Freiheit ist nach all der Unterdrückung ihre Devise – man erlebt eine glutvolle Interpretin ohne alles Klischee. Auch eine frömmelnde Micaela (Anna Pisareva) in ländlich unkleidsamen Klamotten, mit der Puppe, mit Maria in den Armen – auch sie fremdbestimmt durch die dominierende und wie von Garcia Lorca erfundene Mutter. Selbst ihre schön gesungene Arie kann das Schicksal nicht aufhalten. Ohne jeden Stierkämpferpomp muss Seymur Karimov auskommen und verkommt fast zur Nebenfigur, der für Carmens Liebesdienste mit einem Bündel Pesos löhnen muss. Quicklebendig, stimmlich wie darstellerisch, gefällt das Schmugglerquartett: die Damen im Abendkleid und auf High heels, die Jungs verschmitzte Schwule – auch hier keine Spur von Spanien. Das bleibt dem Philharmonischen Orchester unter dem erfahren agierenden Tetsuro Ban überlassen, der sicher durch Bizets Partitur steuert: lange nicht viel mehr als das, am Ende aber mit viel Final-Furor. Das bringt ihm und seinem Philharmonischen Orchester, auch den Sängern viel Applaus ein, ein schüchternes Buh trifft den Regisseur für seine Anhäufung von allerhand unnötigem Bühnen-Kleinkram. Aber sonst: faszinierende „Carmen“-Psychogramme. (Uwe Mitsching)

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