Kultur

Alle Figuren sind vor einem dämonischen Monster versammelt und essen scheinbar gemütlich Spaghetti. Sie bedenken nicht, dass es eine Speise sein könnte, die in den Wahnsinn stürzt, den der Sandmann in seinem roten Gewand teuflisch lachend begleitet. Im Bild Eric Wehlan, Daniel Dietrich, Stefan Herrmann und Clara Kroneck in wechselnden Rollen. (Foto: Martin Kaufhold)

25.03.2022

Psychologisieren in der Geisterbahn

E. T. A. Hoffmanns „Der Sandmann“ in Bamberg: dem Wahn auf der Spur

Heftig und mit lautem Geschrei wirr diskutierend stürzt eine Gruppe bunt gekleideter Schauspieler*innen auf die Bühne. Unlösbare, immer wiederkehrende Fragen nach einer „Kohle“ lösen fast Schallinterferenzen aus. Der Sandmann nach einer Erzählung von E. T. A. Hoffmann ist angesagt. Die Studiobühne des nach dem Autor benannten Bamberger Theaters ziert rechts eine riesige, giftgrüne Kralle, die ein gigantisches Spinnennetz hält; den Hintergrund beherrscht ein monströses Dämonengesicht mit Augen- und Mundhöhlungen. Das verzweifelte Geschrei und die manchmal dröhnend eingespielte Musik machen die Geisterbahnatmosphäre perfekt.

Leidige Diskussion

Der Unterschied zum Jahrmarkt ist der, dass die Sitze des Publikums nicht auf Gleisen durch die Kulissen hindurchrauschen. Außerdem werden auf dem Rummel keine Vorträge mit philosophischen und psychologischen Fragestellungen gehalten, wie das im Bamberger Sandmann der Fall ist. Jugendliche zum Beispiel würden das wohl eh nicht verstehen, wenn andauernd nach der „wahren, wirklichen Realität“ gefragt wird, die man vielleicht im Innern finden müsse – und Erwachsene verstehen das eigentlich auch nicht so recht oder wollen sich nicht mehr damit befassen, nachdem die Zeit der Realismusdiskussion in der Literaturwissenschaft längst vorüber ist.

Heutige Theatergäste möchten im Hoffmann-Gedenkjahr – der Dichter starb vor 200 Jahren – vielleicht auch die Handlung der berühmten Sandmann-Geschichte kennenlernen, was ihnen bei der Bamberger Aufführung nur zum Teil gelingt. Man müsste sich schon vorher in die literarische Vorlage vertiefen, um Elemente der Übereinstimmung mit der Bühnenfassung von Hannes Weiler, der auch Regie führte, finden zu können.

Erkennbar ist bei Weiler immerhin Hoffmanns Hauptfigur Nathanael, jugendlich-intensiv und glaubhaft auf der Bühne verkörpert. Nathanael begibt sich nach einem Kindheitstrauma auf die Suche nach der Ursache für die pathologischen, verstörenden Wahnvorstellungen. Diese Figur erscheint adäquat hoffmannesk in einer Doppelrolle und glaubt zu wissen, der teuflische Coppola beziehungsweise Coppelius, eine Art Zauberer und „Wetterglashändler“ (oder einfach nur der harmlose Sandmann für den Schlaf der Kinder?), habe früher mit seinem Vater chemisch-physikalische Experimente durchgeführt und diesen dabei umgebracht. Auch das findet sich bei Hoffmann, es ist ein Kernpunkt der ganzen, durchaus beängstigenden Sandmann-Geschichte.

Die Mutter will das alles vergessen machen und Nathanaels Verlobte Clara wiegelt völlig ab, sie ist eine Vertreterin der biederen, gutgläubigen Bürgerschaft. Sie leugnet gern die Existenz von großen Katastrophen, die über ihr kleinstädtisches Leben hereinbrechen könnten. Sie kann Nathanael überhaupt nicht verstehen und schreibt die Wahnbilder nur seinem eigenen Inneren zu, ohne wirklichen, äußerlichen Realitätsgehalt.

Alle Figuren werden in einer außerordentlichen schauspielerischen Leistung von Daniel Dietrich, Stefan Herrmann, Clara Kroneck und Eric Wehlan wechselweise verkörpert.

Ganz schön unheimlich

Olimpia, in die sich nach E. T. A. Hoffmanns Erzählung Nathanael zwischenzeitlich besinnungslos verliebt, hängt auf der Studiobühne nur als Marionette im Netz. Unter anderem wegen dieser Figur hat Der Sandmann eine weitreichende Wirkung entfaltet, denn sie stellt sich als die automatische Puppe eines Gelehrten heraus, der sich übermäßig der Wissenschaft verschrieben hat. Ein Meisterstück in Weilers Inszenierung ist die Videoeinlage, die in Art eines Stummfilms das Ausreißen der Augen durch den Sandmann erzählt. Passend zum Hoffmann-Verehrer Franz Kafka wird man an den Prager Golem erinnert und kann Sigmund Freud verstehen, der aufgrund des Sandmann den Begriff des „Unheimlichen“ in die Psychologie einführte. (Andreas Reuss)

 

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