Sie steht am Ende nackt auf kahler Bühne, die Haare zerzaust, der Blick wirr, flackernd von Hass und Trauer. Ihr Mund steht offen, aber sie redet nicht, sondern spricht laut oder schreit – monoton, abgehackt, rhythmisch markant. Sie brüllt ihr ganzes Leben heraus, den Schmerz, die Verzweiflung, die Schmach und den Zorn, den unermesslichen Furor.
Es ist Klytämnestra, die Frau von Agamemnon und Mutter von Iphigenie, Elektra und Orest. Mit ihrem Liebhaber Ägisth schlachtet sie ihren Ehemann ab, nachdem dieser aus Troja zurückgekehrt war. Auch die trojanische Seherin Kassandra, von Agamemnon als Geisel genommen, wird ermordet. Klytämnestra wirft ihr ein Verhältnis mit Agamemnon vor.
Mörderin als Opfer
Es ist ein Schlachthaus, was da am Ende in Agamemnon von Aischylos thront. In der um 458 vor Christus entstandenen Tragödie, neuinszeniert am Münchner Residenztheater, nimmt das Schicksal unerbittlich seinen Lauf. In der starken Darstellung von Pia Händler wird vollends klar, wie sehr auch Klytämnestra ein Opfer ist. Sie hasst Agamemnon, weil er ihre Tochter Iphigenie opfern ließ, um für die Überfahrt nach Troja den Göttern günstige Winde abzuringen. Nach der Tötung von Agamemnon verflucht der Chor Klytämnestra. „Wer gemordet hat, fällt“, heißt es. Sie fühlt sich zu Unrecht gerichtet, weil der Mord an ihrer Tochter Iphigenie keine Rolle spielt. Aus ihm aber wächst die böse Saat des Furors, die weitergetragen wird. Elektra muss dem Mord an ihrem Vater zusehen, was auch sie traumatisiert. Ihr Bruder Orest wird die eigene Mutter und Ägisth töten und selber verflucht sein.
In ihrer fesselnden Darstellung gelingt Pia Händler das große Wunder, im Grunde die gesamte abgründige Familiengeschichte und die verhängnisvolle Kette entsetzlicher Gräueltaten zu verdichten. Für ihre Klytämnestra entwickelt man Mitleid, fernab einer plumpen Schwarz-Weiß-Sicht. Sie ist im Grunde eine Verbrecherin aus verlorener Ehre. Die große Stärke Pia Händlers ist ihre profunde Musikalität in Sprache und Duktus, Mimik und Gestik. In Hamburg 1982 geboren und seit 2019 im Münchner Resi-Ensemble, hat sie zunächst eine Gesangsausbildung absolviert. Das hört man: sowohl in der Ausgestaltung der Dynamik als auch der Metrik. Sie spricht nicht einfach, sondern changiert in ihrer Stimme in Klang und Farbe. Es ist nicht nur eine pure Freude, ihr zuzusehen, sondern auch zuzuhören.
Dieses musikalische Profil passt perfekt zur Inszenierung von Ulrich Rasche. Sie verlebendigt exemplarisch die musikalischen Kräfte in dieser Tragödie. Mit dieser Regiearbeit setzt sich die dreiteilige Resi-Orestie fort; im Oktober hatten Die Fliegen von Jean-Paul Sartre Premiere – eigentlich der zweite Teil der Orestie, weil hier der Matrizid von Orest im Zentrum steht. Mit Athena nach den Eumeniden von Aischylos hat am 24. Februar der dritte Teil im Münchner Marstall in der Regie von Robert Borgmann Premiere. In ihm muss sich Orest für den Muttermord rechtfertigen, gehetzt von Furien. Bei Aischylos selbst bilden die Stücke Agamemnon und Eumeniden mit Die Opfernden am Grab eine Orestie. Das zusätzliche Satyrspiel Proteus gilt als verschollen.
In seiner Agamemnon-Regie vertraut Ulrich Rasche ganz der packenden Vorlage von Aischylos in der Übersetzung von Walter Jens. Nichts wird verfälscht, sondern sinnstiftend geschärft. Auf der Bühne mittig steht das Live-Musik-Quartett mit Schlagwerk und Keyboard. Die geniale Schauspielmusik von Nico van Wersch – seit Langem das Beste in diesem Genre – ist gemeinsam mit dem Chor die treibende Kraft. Der Schauspielchor, perfekt einstudiert von Jürgen Lehmann, spielt bereits bei Aischylos eine ungewöhnlich prominente Rolle. Mit dem unaufhaltsam pulsierenden Schlagwerk entfacht der markante Sprechgesang des Chores einen verhängnisvollen Puls, der schnurstracks in den Abgrund führt.
Die Drehbühne ist pausenlos in Bewegung und mit ihr alle Protagonist*innen. Sie folgen rastlos ihrem Schicksal, monoton wie Maschinen. Zwar wirkt das alles auf die Dauer stellenweise eintönig, aber gerade das entfacht einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann, zumal glänzend gespielt wird. Das gilt für Thomas Lettow in der Titelpartie genauso wie für Lukas Rüppel als Ägisth, Moritz Treuenfels als Menelaos und Liliane Amuat als Kassandra. Als Klytämnestra aber leistet Pia Händler Überragendes. Ihre Darstellung zählt zum Größten der vergangenen Jahre: Chapeau! (Marco Frei)
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