Das Theater gilt immer schon als Spiegel der Gesellschaft und von Gegenwartsphänomenen. Und beides ist im 21. Jahrhundert unbestreitbar digital – das Potenzial von künstlicher Intelligenz dominiert vielerorts auch die kulturellen Diskurse. Der digitale Kulturwandel, der alle Teile der Gesellschaft umfasst, macht keinen Bogen um die Theater.
Mit dieser Auffassung „promotet“ auch Lukas Joshua Baueregger, der zuvor als Regieassistent analoge Theaterpraxis sammelte, seine fraglos zukunftsfähige Position. Gemeinsam mit Virtual-Reality-Spezialist Benjamin Seuffert leitet er seit dieser Spielzeit das Digitaltheater in Augsburg, das jetzt ganz offiziell als fünfte Sparte die Spielplanpalette des Staatstheaters Augsburg bereichert.
Selbst das Publikum der Boomer-Generation, das noch fest davon überzeugt ist, dass die Theater als digitale Detox-Räume mit analog packenden Live-Erlebnissen punkten (sollten), kann die Augen nicht vor dem Trend zu Formaten verschließen, die Technologien von Virtual Reality (VR) nutzen, um theateraffine Inhalte zu vermitteln und innovative Projekte und Reihen zu etablieren. Es ist ein experimentelles Spielfeld, das sich konstant fortentwickeln lässt und natürlich nicht zuletzt neue Publikumsschichten gewinnen will.
Es spricht sicher Bände, dass im kommenden Sommersemester als neuer Masterstudiengang „Theatre and Digitality“ an der Fachhochschule Dortmund startet. Gemeinsam mit der „Akademie für Theater und Digitalität“ als sechster Sparte des Theaters Dortmund werden dann praxis- und anwendungsnah Kenntnisse zu digitalen Erzähltechniken und dramaturgischen Möglichkeiten virtueller und hybrider Realitäten vermittelt. Die Absolventinnen und Absolventen sollen zukünftig etwa als „Creative Coder“ oder „Digital Stage Creator“ an Stadt- und Staatstheatern, in Museen oder bei kulturellen Festivals tätig werden.
Bereits seit 2019 experimentierte man in Augsburg mit VR. In Glucks von Intendant André Bücker inszenierter Barockoper Orfeo ed Euridice durfte das Publikum an drei Stellen die unter den Stühlen bereitliegenden VR-Brillen aufsetzen, um neben den live gesungenen Arien für aufregende Momente in bunte Fantasy-Welten im 360-Grad-Modus ein- beziehungsweise abzutauchen. Es traf sich bestens, dass Bücker bekennender Fan der immersiven Technologien ist, die in und aus der Gamer-Community bekannt und beliebt waren. Auch die Pandemiejahre könnte man als Gamechanger bezeichnen, als schnell Streaming-Alternativen zum verbotenen Livetheater gefunden werden mussten.
Jetzt entdeckt man auf der Website bereits elf Inszenierungen aus den Sparten Ballett, Konzert und Schauspiel im „vr@home“-Angebot des Staatstheaters Augsburg, die man inklusive der Brillen bequem für 29 Euro nach Hause bestellen kann – geliefert wird deutschlandweit und nach Österreich. Darunter erklingen auch Mussorgskis Bilder einer Ausstellung als erstes Virtual-Reality-Projekt der Augsburger Philharmoniker unter der Leitung ihres Generalmusikdirektors Domonkos Héja als interaktives Konzert. Man taucht an vier unterschiedlichen Positionen mitten ins Orchester ein und kann per Rundumblick eine Perspektive einnehmen, wie sie sonst nur den Mitwirkenden vorbehalten ist. Das VR-Konzert ist nicht allein visuell, sondern auch klanglich ein beeindruckendes 360-Grad-Erlebnis.
Jüngst wurde bei den Ausleihen in Augsburg die 10 000er-Marke geknackt. Und so scheint sich die hohe finanzielle Investition in die Anschaffung der kostspieligen Brillen gelohnt zu haben. Nachgefragt wird auch das Angebot, mit einem Brillen-Koffer an Schulen zu kommen, um in den Oberstufen die teils mit Workshops verbundenen 360-Grad-Inszenierungen und damit neue Theatererlebnisse vorzustellen.
Drei verschiedene Generationen nutzen das Angebot
Ebenso neu ist das Angebot „VR vor Ort“. Dabei gastiert das VR-Brillen-Theater an bestimmten Terminen etwa in Stadtteilbüchereien. Baueregger berichtet dabei von einer ganzen Familie, die sich über drei Generationen hinweg „beglückt“ zeigte von dem Erlebnis. Es gebe auch ein älteres, nicht mehr mobiles Ehepaar, das Stamm-Nutzer der VR-Brillen-Inszenierungen im eigenen Heim ist und per Brief positives Feedback an die digitalen Theatermacher übermittelt hat.
Die neue Sparte des Staatstheaters ist konstant dabei, die Handlungsräume des theatralen Storytellings auszuloten und dabei durchaus im Blick zu behalten, wo und wie sich VR als Tool mit einem theatralen Mehrwert realisieren lässt. So feiert am 28. Mai unter dem Titel Wonderland Ave. das Schauspiel von Sibylle Berg als hybride Inszenierung mit VR-Brillen seine Premiere, in dem heiter-melancholisch ein mögliches Ende der (Arbeits-)Welt beschrieben wird, wie wir sie kennen. Der Mensch wird von Maschinen ausgespielt und das vorhandene „Humankapital“ mit automatisierten Stimmen an das nahende Ende herangeführt – frei von Leistungsdruck und Konkurrenzkampf.
Auch das Staatstheater Nürnberg richtete unter dem Namen „Extended Reality Theater – XRT“ und der Leitung von Digitaltheatermacher Roman Senkl als künstlerischem Leiter und Nils Corte als Leiter Creative Technologies eine dauerhafte digitale Schauspielstätte auf der Studiobühne im dritten Stock des Schauspielhauses ein. Im Juni 2023 gab es mit der Mythos P.A.N. betitelten Produktion die Premiere des XRT. Jetzt gibt es pro Spielzeit vier Produktionen, die in ihren Erzählweisen wie auch inhaltlich mit den bereitgestellten Technologien umgehen und die Veränderung unserer Lebenswelt durch die Digitalisierung aufgreifen.
Und natürlich stieg man inzwischen auch in der Landeshauptstadt unter anderem im Residenztheater unter dem Motto „Neue Sinnlichkeit“ ins digitale Theaterwesen ein. Hier sollen neue Medien, Gegenwartsdramatik und Schauspielkunst mit dem Ziel verbunden werden, zukunftsweisende sinnliche Erlebnisse im Bereich der darstellenden Kunst zu entwickeln. Es bleibt also spannend, was die ästhetische Zukunft des Theaters betrifft – sowohl analog als auch virtuell beziehungsweise digital. (Renate Baumiller-Guggenberger)
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