Kultur

Cathrin Störmer rezitiert genial August Stramms Wort-Klanggebilde und macht den psychologischen Verlauf darin erfahrbar. (Foto: Adrienne Meister)

18.03.2022

Wenn das Grauen grinst

Ein beklemmender Abend mit Gedichten von August Stramm

Die Worte schießen förmlich aus ihrem Mund. Sie gleichen Gewehrsalven. „Fallen/Sinken/Stürzen/Wirbeln/Wirren/Flirren/Irren – Nichts.“ Hier gibt es kein lyrisches Ich mehr. Was bleibt, ist einzig ein Wort-Klangkörper mit rhythmisch-lautmalerischer Motorik. Er spiegelt unmittelbar einen Ist-Zustand wieder: den Krieg.

In ihrer Rezitation verlebendigt Cathrin Störmer dieses lyrische Profil von August Stramm in jedem Moment. Über eine knappe Stunde vermag es diese großartige Schauspielerin, in einen Sog hineinzuziehen. Immer tiefer dringt man ein in die infernalische Erlebniswelt des deutschen Autors (1874 bis 1915).

Was Jan Höft mit Stramm – Eine Intervention für das Residenztheater in der Münchner Villa Stuck inszeniert hat, ist erschreckend aktuell. Als dieser Abend auf den Spielplan gesetzt wurde, war von einem Krieg in der Ukraine keine Rede. Wer unmittelbar erfahren will, wie sich Krieg anhört und anfühlt, wie sich rohe Gewalt und blankes Entsetzen tief in die Seele und den Körper fressen, wie selbst im schwärzesten Nichts doch noch ein Sehnen flimmert, darf diesen Abend nicht verpassen.

Stramm wusste, wovon er schrieb. Er fand zur Lyrik, als die Welt in Flammen stand. Sein erstes Gedicht, das er nicht vernichtet hat, datiert auf März 1914. Wenig später begann der Erste Weltkrieg. Die letzten Verse entstanden im Sommer 1915. Kurz darauf fiel er an der russischen Front. Davor verfasste er eine Lyrik, die mit ihrem radikalen Expressionismus noch heute ausgesprochen avantgardistisch wirkt. Die von Valerio Tricoli komponierte Live-Elektronikmusik wie auch das Lichtdesign von Sascha Tillard verdichten die Atmosphäre.

Nichts aber lenkt ab von der starken Darstellungskraft Cathrin Störmers. Im von Jonas Vogt reduziert gestalteten Raum verhüllt zu Beginn ein zeltartiges Gebilde die Szene. In diesem weißen Zelt beginnt Störmer mit der Rezitation der Gedichtauswahl. Manche von Stramms Wortgebilden wirken zunächst fast schon ungewollt komisch, erinnern an die Dichterlesung aus dem Film Pappa ante portas von Loriot. Während aber das Zelt langsam nach oben entschwindet, konzentriert sich das Geschehen, bis das Grauen grinst.

Wider die Grammatik

Die Gedichte von Stramm wollen nicht unbedingt verständlich sein. Sie verletzen ganz bewusst Regeln der Grammatik und der Syntax. Die Sprache beschränkt sich auf Verben sowie Substantive, kurz und knapp sind die Verse. Im Schnitt enthält ein Gedicht 26 oder 27 Wörter in 15 Zeilen. Das Gedicht Urtod besteht aus 47 Zeilen mit jeweils einem einzigen Wort. Gleich neun Mal wird der Refrain wiederholt. „Raum/Zeit/Raum“, heißt es unentwegt. Dazwischen vollzieht sich ein Prozess des Sterbens: zunächst langsam, bald gefolgt von einem Crescendo im Dreierschritt. Ähnlich agiert Stramm in Im Feuer: „Tode schlurren/Sterben rattert/Einsam/Mauert/Welttiefhohe/Einsamkeit.“ Auf geradezu brutale Weise werden Krieg und Tod als Wortklang erfahrbar.

Diese akustische Präsenz ist musikalisch gedacht, was die Rezitation Cathrin Störmers exemplarisch verinnerlicht. Sie steigert sich immer tiefer und weiter in die Worte hinein. Damit macht sie zugleich eine Dramaturgie hörbar, die ganz klar einem psychologischen Verlauf folgt. Ob Erregung und Sehnsucht, Wut oder Angst, Schmerz und Leid: Es ist der Seelenzustand selber, der den Rhythmus und die Dynamik dieses Wort-Klangkörpers bestimmt.

Am Ende steht Störmer hinten vor einer Wand. Die Klangkulisse von Tricoli verstummt. Was bleibt, ist Stammeln und Schreien, Klagen und Flehen. Der Mensch ist ganz nackt auf sich selber zurückgeworfen. Im Angesicht des Todes bleibt nur das Sehnen nach der Urgeborgenheit des Kindes. „Mutter. Rauh. Halte mich. Ich falle doch. Mutter. Ich falle. Mutter.“ (Marco Frei)

 

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