Kultur

Fritz Erler war Mitbegründer der Zeitschrift "Jugend". Seine oft großen und dekorativen Gemälde waren gefragt. Hier "Rübezahl auf Reisen" von 1897. (Foto: Münchner Stadtmuseum)

22.11.2024

Wie Spätbarock unter Drogen

Die Kunsthalle München und das Münchner Stadtmuseum erzählen in einer grandiosen Schau von der Bedeutung des Jugendstils

Warum hat uns das eigentlich niemand früher gesagt? Warum war bisher so wenig bekannt, dass die Fassade des berühmten Fotoateliers Elvira in München, die als eine der Ikonen des Jugendstils schlechthin galt, in glosendem Dunkelgrün gestrichen war, während das schwungvolle biomorphe Relief darauf in Violetttönen leuchtete? Erst mit dieser herrlich perversen Farbgebung wird doch klar, was man angesichts der Schwarz-Weiß-Aufnahmen nie recht verstand: weshalb diese Fassade als derart nachhaltige Provokation aufgefasst wurde, dass noch in den 1930er-Jahren die Nazis das Relief abschlagen ließen, obwohl der Nationalsozialismus ansonsten teilweise durchaus vom Natürlichkeitsgedankengut infiltriert war, das der Lebensreformbewegung um 1900 entstammt.

Exzentrische Gestalt

Es ist der grandiosen und prächtigen Ausstellung Jugendstil. Made in Munich zu verdanken, die von der Kunsthalle München in Kooperation mit dem Münchner Stadtmuseum gezeigt wird, dass wir jetzt einer farbigen Rekonstruktion dieser Fassade begegnen können. Das löst einen echten Aha-Effekt aus – ebenso wie die knallbunten Glasvasen Georg Carl von Reichenbachs oder ein Silberbesteck Richard Riemerschmids mit bizarr großem Messergriff.

In der Ausstellung wird deutlicher denn je: Was den Jugendstil bis heute so reizvoll macht, ihn so unvergänglich modern erscheinen lässt, als hätte er buchstäblich die ewige Jugend gepachtet, ist die Tatsache, dass er, ohne schon typisches Design zu sein, im Bereich der angewandten Kunst erstmals jenen Geist der Exaltation verkörpert, der die Moderne ausmacht. Denn es sind eben die spannungsvollen Halbdissonanzen, in denen der Jugendstil auf die gesellschaftlich-kulturellen Brüche und Verwerfungen reagiert, die Harmonie nur noch in exzentrischer Gestalt gestatten.

Ende der Plüschära

Es ist die Verbindung von explodierendem Ornament, das aussieht wie eine spätbarocke Rocaille unter Drogen, mit der strengen, oft auch sachlichen Stilisierung, die sich etwa in der Neigung zum konischen Korpus der Möbel zeigt. Angesichts dieser Formfindungen scheint es noch verständlicher, dass der vorangegangene historistische Schwulst in seiner unehrlichen Maskenhaftigkeit irgendwann unerträglich geworden war. Dass die plüschige Puffatmosphäre gründerzeitlicher Interieurs, die die letzten drei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts dominierte, der Jugend irgendwann auf die Nerven ging. Und so war es nur konsequent, dass der Nachwuchs um 1900 den neuen Stil eben gleich nach sich selbst benannte: Der Jugendstil war geboren.

Denn, auch wenn einer populären und nicht völlig falschen Legende zufolge jene neue Kunstrichtung, die im Rest der Welt Art nouveau genannt wird, ihren in Deutschland gebräuchlichen Namen in Anlehnung an die Zeitschrift Jugend bekommen habe, die nicht nur, aber oft dem neuen Stil huldigte – bei weniger anekdotischer Betrachtung darf man annehmen, dass gerade umgekehrt die 1896 in München gegründete Zeitschrift ihren Namen von jenem Jugendstil avant la lett-re herleitete, der bereits gärte als objektive Tendenz, die dem konturlosen Anschwellen pyknischen Plunders die athletische Grazie des Linearen, der gespannten organischen Kraft entgegenstellte.

Trend zu Abstraktem

Der Tenor der Ausstellung geht jedenfalls dahin, den Jugendstil als Initialzündung avantgardistischer Tendenzen zu erkennen: Zum einen, indem er mit seinen ins Gegenstandslose entgrenzten Ornamenten speziell in München die Hinwendung zur Abstraktion vorbereitete. Zum anderen, weil der Epoche des Jugendstils das idealistische Konzept entstammt, das dann im Bauhaus zur vollen Blüte kam: die Idee, dass das Design das Bewusstsein bestimme, also dass Menschen, die von „guten Formen“ umgeben sind, dadurch besser, freier, glücklicher würden. Eine Vorstellung, die als abgesunkenes Kulturgut bis heute in ihrer verbiestert-humorlosen Variante virulent scheint. Schließlich insinuieren auch die spießigen Benimmregeln der Political Correctness, man könne gesellschaftliche Schieflagen einfach durch Sprachkosmetik wegschminken und müsse gar nicht erst die Macht- und Eigentumsfrage stellen. Apropos Eigentum: Drei Viertel der gut 400 Exponate gehören dem Münchner Stadtmuseum, also letztlich den Münchner Bürger*innen. (Alexander Altmann)

Information: Bis 23. März. Kunsthalle München, Theatinerstraße 8, 80333 München. www.kunsthalle-muc.de

Abbildung: Die legendäre Jugendstilfassade des Hofateliers Elvira in München muss man sich in Dunkelgrün und Violett vorstellen. (Foto: Münchner Stadtmuseum/Archiv Kester)

 

 

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