Kultur

„Born“, eine Bronze von Kiki Smith aus dem Jahr 2002. (Foto: Ellen Page Wilson)

29.03.2018

Zwischen Trauma und Tabu

Als erstes Museum zeigt das Münchner Haus der Kunst eine große Kiki-Smith-Retrospektive

Früher war Kiki Smith eine Blut-Schweiß-und-Tränen-Künstlerin. Zumindest im wortwörtlichen Sinn: „Blut“, „Eiter“, „Speichel“, „Urin“, „Tränen“ steht in Frakturschrift auf den silbrigen Flaschen, die man im Münchner Haus der Kunst bestaunen kann. Und auch wenn die Gefäße angeblich leer sind – dieser in Nürnberg geborenen, deutsch-amerikanischen Künstlerin würde man zutrauen, dass dort, wo Eiter draufsteht, auch Eiter drin ist. Schließlich gilt die gelernte Rettungssanitäterin als eine Art Spezialistin für Körperwelten, die in ihren Plastiken gerne Gliedmaßen und Eingeweide aus Glas, Metall und anderen oft wunderbar unpassenden Materialien nachformt.

Nicht ohne Grund erinnert Smith’ lebensgroße Wachsfigur Virgin Mary von 1992 an anatomische Präparate, wie sie Medizinstudenten vorgesetzt kriegen. Die heilige Jungfrau ist bei Kiki Smith (Jahrgang 1954) nämlich nicht nur nackt, sondern ein Körper ohne Haut, an dem man Muskeln, Sehnen, Blutgefäße erkennt. So explizit möchte sich mancher die „Fleischwerdung des Geistes“ vielleicht lieber nicht vorstellen.
Dass die Künstlerin diese Radikalität von einst inzwischen gegen eine altersmilde Märchentanten-Attitüde ausgetauscht hat, macht die Ausstellung Procession im Haus der Kunst deutlich. Die Schau – mit Werken aus den letzten 30 Jahren die erste große Kiki-Smith-Retrospektive in einem europäischen Museum – zeigt, wie die Ekel-Kunst der Körperflüssigkeiten inzwischen einer Sonne-Mond-und-Sterne-Idyllik gewichen ist, die Smith in Tapisserien zelebriert.


Süßliche Esoterik



Aber schließlich soll eine „Prozession“ ja den Weg zum Heil darstellen. Insofern scheint es nur konsequent, wenn die schwärende Wunde unserer körperlichen Existenz, die einst das Thema dieser Künstlerin war, sich inzwischen zur versöhnlichen Traumbild-Esoterik geschlossen hat und das Gekröse-Pathos sich in süßliche Kosmos-Beschwörungen wandelte.

Dabei war es gerade das Spiel mit der Ambivalenz des Schwulstes, das Kiki Smith’ beste Arbeiten auszeichnete. So wie ihre Zeichnungen von Pflänzchen und Rehlein den Verdacht schüren, hinter ihrer peniblen, immer leicht naiv wirkenden Gegenständlichkeit gähnten Abgründe von Trauma und Tabu, so changieren auch ihre Bronzeplastiken zwischen Kitsch und Unheimlichkeit. Da ragt aus einer Hirschkuh hinten eine nackte Frau steif heraus, als sei sie soeben aus dem Geburtskanal gerutscht, in dem bloß noch die Füße stecken – nur, dass die menschliche „Leibesfrucht“ viel größer ist als das gebärende Muttertier.

Eine andere Bronze zeigt einen rücklings am Boden liegenden Wolf, dessen geöffnetem Bauch ebenfalls eine nackte Frau entsteigt – womöglich Rotkäppchen und die Großmutter in Personalunion, die ja bekanntlich beide aus dem Bauch des bösen Wolfes befreit wurden.

Das Spiel mit archaisch-totemistisch sich gerierenden Motiven soll gerade durch den Drall ins Kindlich-Märchenhafte psychologisch „tiefergelegt“ werden, auf dass uns ein Hauch des Unbewussten wie des Unheimlichen anwehen möge. Ganz entgeht Kiki Smith damit nicht der Gefahr, dass das, was bei dem erkennbaren Vorbild Louise Bourgeois authentische Artikulation war, bei der Jüngeren sich zur Masche abflacht.
(Alexander Altmann)

Bis 3. Juni. Haus der Kunst, Prinzregentenstraße 1, 80538 München. Mo. bis So. 10-20 Uhr, Do. 10-22 Uhr.

www.hausderkunst.de

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