Die Heimat von Tobias Reiß gehört zu den Gegenden Bayerns, für die der Begriff „ländlicher Raum“ erfunden zu sein scheint. Brand in der Oberpfalz schmiegt sich an die Ausläufer des Fichtelgebirges, drumherum viel Wald, dazu Wiesen und Äcker. In die Kreisstadt Tirschenreuth fährt man mit dem Auto fast eine Dreiviertelstunde, in größere Städte wie Bayreuth oder Weiden ist es auch nicht näher. In dem konservativ-katholischen Ambiente hätte die CSU über lange Jahre den sprichwörtlichen Besenstiel als Kandidaten aufstellen können, 50 plus XXL bei den Wahlergebnissen wären dennoch sicher gewesen. Wie überall in Bayern wachsen aber auch in diesem Idyll die Bäume für die CSU nicht mehr in den Himmel. Trotzdem hat Reiß (50) sein Direktmandat zum zweiten Mal in Folge sicher verteidigt.
In seiner Jugend bestimmten Kirche und CSU wie selbstverständlich das Dorfleben. Genau in dieser Reihenfolge geschah auch die Sozialisation Reiß’. Er engagierte sich erst in der Jugendarbeit der Kirchengemeinde, mit 16 trat er der Jungen Union (JU) bei. Die Gründe dafür hatten mit Politik zunächst wenig zu tun. „Das war einfach so bei uns“, erzählt Reiß. Im Dorf mit raren Angeboten für die Jugend habe die JU die Möglichkeit geboten, zu feiern und dazuzugehören. Ob er mit dieser Motivationslage auch zu den Jusos gegangen wäre? Die Frage verursacht bei Reiß fast einen Lachkrampf. „Erstens gab’s die bei uns gar nicht, und wenn doch, dann hätte man nicht dazugehört im Dorf!“
Reiß aber wollte nicht nur dazugehören, sondern mitgestalten. Also übernahm er noch als Schüler die vom Pfarrer initiierte Theatergruppe und gründete dafür einen eigenen Verein. Als Höhepunkt seiner Theaterleiterkarriere führte Reiß mit Mitte 20 Regie beim Brandner Kaspar und spielte dabei die Rolle des Petrus. „Mich hat das ein halbes Jahr meines Studiums gekostet – aber die Leute schwärmen noch heute davon“, berichtet Reiß nicht ohne Stolz. Die Theatergruppe gibt es bis heute, auch wenn Reiß höchstens noch beratend zur Seite steht. Neben der Feuerwehr sei die Gruppe „eine der Konstanten im Dorfleben“.
Kirche und CSU prägten Reiß noch auf andere Weise. Um den zeitraubenden Busfahrten in eines der umständlich zu erreichenden Gymnasien der Region zu entgehen, wechselte Reiß an das Studienseminar der Augustiner-Patres in Weiden. Die genauen Gründe dafür weiß er heute nicht mehr. Hauptargument sei aber wohl gewesen, dass sich sein Vater gerade als Elektromeister selbstständig gemacht habe und wegen der damit verbundenen Arbeitsbelastung zur Überzeugung gekommen sei, „im Internat ist der Bub gut aufgehoben“. Für Reiß ist das rückblickend „eine der genialsten Entscheidungen“ seiner Eltern. Sowohl für seine persönliche Entwicklung als auch die schulische Laufbahn sei die Zeit „nur positiv“ gewesen. Die Gemeinschaft, die gute Betreuung, das „klösterliche Drumherum“ – das alles habe ihn sehr geprägt. Und die Kombination aus Internat unter der Woche und Jugendarbeit daheim am Wochenende sei eine „ideale Konstellation“ gewesen.
Nach Abitur und Wehrdienst studierte Reiß Jura. Mit der Vorgeschichte im katholischen Internat und als Ober-Ministrant in der heimischen Pfarrei sei natürlich auch ein Theologie-Studium ein Gedanke gewesen – aber nur kurz. „Das war spätestens mit dem Thema Freundin erledigt“, schiebt Reiß diese Alternative lächelnd beiseite. Jura und Politik seien für ihn damals schon etwas Verwandtes gewesen, immerhin war er schon mit 21 für die CSU in den Brander Gemeinderat eingezogen. Der Wechsel in die große Politik sei ihm damals aber noch nicht in den Sinn gekommen. Nach dem Studium heuerte Reiß als Justitiar bei einem familiengeführten Bauindustrieunternehmen aus der Region an – Berufserfahrung, die er nicht missen möchte und die ihm heute in der Politik hilft.
Reiß ist ein Familienmensch
Reiß sieht den schnellen Karriereweg vom Kreißsaal über den Hör- in den Plenarsaal denn auch skeptisch. „Erst Berufserfahrung macht fit für die Politik, jünger und weiblicher allein reicht nicht“, lautet seine Überzeugung – es ist der einzige Hauch einer Kritik an Stil und Zielen des neuen CSU-Chefs Markus Söder. „Sicher braucht man immer Erneuerung und frische Ideen, aber es braucht auch Leute, die im richtigen Leben schon etwas erreicht haben.“ Trotzdem hat es bei Reiß gedauert, bis er nach seiner Wahl in den Landtag 2008 in der CSU-Fraktion Verantwortung übernehmen durfte. Sein erster Förderer war Ex-Parteichef Erwin Huber.
Unter dessen Leitung war Reiß Mitglied im Wirtschaftsausschuss und energiepolitischer Sprecher. Anfangs war das keine herausgehobene Funktion, was sich 2011 mit der Reaktor-Katastrophe von Fukushima schlagartig änderte. Die Energiewende war plötzlich das Thema und Reiß mittendrin. So stieg er zum Chef der Energiewende-Kommission des Landtags auf, die Bayern den Weg ins Zeitalter der erneuerbaren Energien weisen sollte. Dass deren Ergebnisse heute kaum noch beachtet werden, ärgert Reiß. Ihm fehlt auf Bundes- wie Landesebene das schlüssige Gesamtkonzept. „Wir haben in der Kommission sicher nicht das Ei des Kolumbus versteckt, aber gute Ideen gerade für eine effiziente Energienutzung sind schon drin“, wirbt er für den leicht angestaubten Schlussbericht. Ein Blick hinein würde aus seiner Sicht „nicht schaden“.
Das Sprungbrett für die weitere Karriere war der Kommissionsvorsitz nicht. Nach der Wahl 2013 musste sich Reiß wieder einreihen. Er machte weiterhin Ausschussarbeit und wurde Mitglied der Enquete-Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“. Erst mit der Regierungsumbildung 2017 schlug seine Stunde. Am Ende der Rochade wurde der Vorsitz im Ausschuss öffentlicher Dienst frei, Reiß erhielt den Zuschlag. Lange blieb er dort aber nicht. Die Regierungsübernahme durch Markus Söder spülte ihn ein Jahr später ins Amt des CSU-Fraktionsvizes und Parlamentarischen Geschäftsführers – Posten an den Schaltstellen des Landtagsbetriebs, die Reiß nach der Wahl 2018 behielt. Er fühle sich jetzt „so richtig mittendrin angekommen“ im Landtag, sagt Reiß.
Sein Angekommensein nutzt er nun auch, um in der Partei Duftmarken zu setzen. Den Aufstieg von Freien Wählern und AfD als neue Konkurrenten im bürgerlich-konservativen Lager habe die CSU mitzuverantworten, betont er. „Wir müssen uns wieder breiter aufstellen und zeigen, dass wir als Volkspartei alle relevanten Themen abdecken“, fordert Reiß. Das gehe von den großen Linien bis zu den kleinen Sorgen der Bürger. „Die Zeit der eindimensionalen Ansätze ist vorbei“, urteilt Reiß und begrüßt vor diesem Hintergrund den von Söder neuerdings verfolgten Ansatz des Versöhnens verschiedener Interessen. Zudem müsse die CSU stärker deutlich machen, welche Erfolge sie und ihre Politik den Bayern gebracht hätten. Weil man auf diesem Gebiet kaum wahrnehmbar gewesen sei, sei man zum Beispiel beim Artenschutz-Volksbegehren in die Defensive geraten.
Über seine weitere Karriere macht sich Reiß keine öffentlichen Gedanken. Vielleicht auch deshalb, weil er als „Familienmensch“ und Vater zweier Töchter möglichst viel freie Zeit zu Hause in Brand verbringen möchte. Große Hobbys habe er nicht, erzählt Reiß, er sei halt gerne draußen in der Natur. Beim Wandern im Fichtelgebirge oder dem Steinwald vor der Haustür. Ländlicher Raum hat für ihn keinen negativen Beigeschmack, zumal sich seine einst verschlafene und abgehängte Heimat gerade dynamisch entwickle, ohne an Lebensqualität einzubüßen. Wenn man ihn richtig versteht, würde er das nur um des Aufstiegs willen nicht opfern wollen. „Da muss alles passen“, betont Reiß. (Jürgen Umlauft)
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