Landtag

Ulrich Singer. (Foto: dpa/Tobias Hase)

14.04.2022

Der Mediator

Im Porträt: Ulrich Singer, AfD-Fraktionschef

Wenn Politiker*innen erzählen, die Person komme nicht zum Amt, sondern das Amt zur Person, dann ist das nicht selten die Koketterie der Ehrgeizigen. Beim neuen AfD-Fraktionschef Ulrich Singer könnte der Satz aber auf eine besondere Weise stimmen. „Ich bin ein Mensch, der nach Harmonie sucht“, sagt der 45-jährige schwäbische Abgeordnete. Als Vorsitzendem einer Truppe, zu der nicht nur einfache Charaktere gehören und bei der interner Zwist eher die Regel als die Ausnahme scheint, kann ihm sein Faible für Moderation nicht schaden.

Singer hat Jura studiert und führt seit 2003 eine Anwaltskanzlei in Wemding am Ostrand des Nördlinger Ries. Anwalt sei er geworden, weil er sich schon immer für soziale Gerechtigkeit interessiert hat, erzählt er. Sein Ziel sei dabei nie gewesen, im Gerichtssaal streitige Sachen durchzukämpfen, er suche lieber im Vorfeld einvernehmliche Lösungen. „Mein Standpunkt ist: Wenn ich vor Gericht ziehen muss, dann bin ich in meinen anwaltlichen Aufgaben eigentlich gescheitert.“ Er weiß, dass viele das anders sehen, und manchmal geht es ohne Gerichtsbeschluss auch wirklich nicht. Singer zieht aber im Regelfall ein Mediations- dem Gerichtsverfahren vor.

Als Anwalt hat sich Singer auf die Betreuung von Menschen mit Behinderung oder Krankheit und auf Vormundschaften für Waisenkinder und unbegleitete minderjährige Migrant*innen spezialisiert. Zudem übernimmt er Nachlassverwaltungen und Testamentsvollstreckungen. In die Politik zog es ihn um das Jahr 2015. Grund: Er sah sich enttäuscht durch überbordende Bürokratie, die dazu geführt habe, dass die Arbeitsbedingungen für Berufsbetreuende und deren Schützlinge schlechter wurden. Auf dem Papier sind aus seiner Sicht die Gesetze sozial gerechter geworden, in der Realität erlebe er, „dass viele alte Menschen auf Tafeln angewiesen sind und Flaschen sammeln gehen“.

Genau diese Probleme habe die AfD damals für ihn treffend angesprochen. In der Debatte um die Aufnahme der vielen Flüchtlinge 2015 und 2016 habe die Partei darauf hingewiesen, dass man deutsche Familien in sozialen Nöten und Menschen, die schon länger bei uns lebten, nicht vergessen dürfe. Von den Medien sei diese Position oft „böswillig missinterpretiert“ worden, schildert Singer seine damalige Wahrnehmung. Er sei der AfD deshalb aus Solidarität beigetreten und in die junge Partei schnell über den Beisitzer im Kreisvorstand bis zum Landtagskandidaten „immer tiefer reingerutscht“.

Dass sich die AfD zunehmend von der Partei entfernt, in die er 2016 eingetreten ist, glaubt Singer nicht. Allerdings hadert er mit manchen Äußerungen von Parteikolleg*innen. Das Problem dabei sei „nicht der Inhalt, sondern die Verpackung“. Zudem würden verbale Ausrutscher bei der AfD „stärker ausgeschlachtet“ als bei anderen Parteien. So erklärt sich Singer auch die Einstufung der AfD als extremistischer Verdachtsfall durch den Verfassungsschutz, die er für unberechtigt und „politisch motiviert“ hält. Er jedenfalls versuche, Provokationen zu vermeiden und sachlich zu bleiben. Im Landtag gehört Singer zumindest nicht zu denen in der AfD, die kalkuliert provozieren.

Seine Russlandliebe ist der Ernüchterung gewichen

Im Internet allerdings finden sich Berichte über Auftritte Singers im Landtagswahlkampf 2018, die auf rechtes und völkisches Gedankengut schließen lassen könnten. Demnach nutzte Singer damals Anleihen der identitären Erzählung von der drohenden „Umvolkung“ und radikale Thesen gegen Schwangerschaftsabbrüche. Singer relativiert solche Darstellungen – wie in der AfD üblich – als bewusste Falschinterpretationen. Er sehe einen „Prozess der Veränderung in unserer Gesellschaft“, der sich durch eine niedrige Geburtenrate in der deutschen Bevölkerung und eine wachsende Zuwanderung ergebe, erklärt er. Weil die Deutschen immer weniger Kinder bekommen, tritt er für „positive Willkommenskultur für Kinder“ ein. Es müsse mehr Angebote geben, damit sich schwangere Frauen für das Kind entschieden. Singer ist im März selbst Vater geworden. Und schwärmt vom ergreifenden Gefühl, ein Neugeborenes im Arm zu halten: „Unsere Verfassung lügt nicht, wenn es heißt: Kinder sind das köstlichste Gut eines Volkes.“

Als Fraktionschef sieht sich Singer mit einer „schwierigen Aufgabe“ konfrontiert. Nach dem Austritt zweier Gefolgsleute droht er wieder ein „Minderheitsvorsitzender“ zu werden. Dass es erneut dazu kommen könnte, dass sich die AfD-Fraktion nicht mal auf die Tagesordnung ihrer Klausur einigen kann, glaubt Singer nicht. Er setzt da auf seine mediatorische Erfahrung als Anwalt. Seine Aufgabe vergleicht er mit der Befriedung einer Erbengemeinschaft: „Am Ende soll jeder seinen Anteil vom Kuchen haben.“

Er räumt ein: Noch komme dieser Ansatz „nicht bei jedem an“. Aber so gespalten, wie es oft heißt, sei die Fraktion nicht. Auch der lautstarke Streit mit seiner Vorgängerin Katrin Ebner-Steiner, bei dem diese ihn wohl eher unbeabsichtigt an der Hand verletzt hatte, sei in einem langen Vieraugengespräch ausgeräumt worden.

Im Landtag sitzt Singer weiter im Sozialausschuss – „eine Herzensangelegenheit“ – und im Kulturausschuss. Dort bearbeitet er mit Vorliebe das Thema Denkmalschutz. Mit einem Leuchten in den Augen berichtet er, dass Sanieren und Renovieren seine große Leidenschaft sei. In Wemding hat er deshalb für seinerzeit 8700 Euro ein Häuschen samt Grund gekauft. Hauptsächlich in Eigenleistung habe er es wieder hergerichtet und dort vorübergehend seine Kanzlei eingerichtet. In seiner Freizeit ist er zudem als Sportschütze aktiv.

Mit einer Mischung aus Wehmut und Fassungslosigkeit blickt Singer auf die Entwicklung in Russland. In der Aufbruchstimmung nach dem Mauerfall und der „naiven Hoffnung“ auf partnerschaftliche Beziehungen und einen europäischen Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok lernte er Russisch. Bei einem Aufenthalt in Moskau hat er sich „in Land und Leute verliebt“. Umso ernüchterter blickt Singer heute auf den Krieg gegen die Ukraine. Seine Hoffnung: dass es der Diplomatie gelingt, für Frieden zu sorgen und Brücken der Verständigung zu bauen. (Jürgen Umlauft)

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