Zum verabredeten Gespräch ist Jürgen Mistol schon fünf Minuten vor der Zeit am verabredeten Ort, er sieht aus wie aus dem Ei gepellt: superschicker Anzug, perfekt dazu passende, dezente Krawatte. Mistol (54), stellvertretender Fraktionsvorsitzender und parlamentarischer Geschäftsführer der Landtags-Grünen, ist nicht nur einer der schicksten Abgeordneten – er zählt auch zu den ganz wenigen, die immer pünktlich sind. „Ich hasse Unpünktlichkeit“, gesteht er. Weshalb er sichtlich nervös wird, als er merkt, dass er nicht rechtzeitig aufbrechen kann, weil man noch Fragen an ihn hat. Stress! Eigentlich will er RECHTZEITIG beim nächsten Termin sein. Nach einigen SMS und einem Telefonat hat er das Problem gelöst und trifft zehn Minuten später als geplant zur Besprechung im Landtag ein.
Der aus Regensburg stammende unverheiratete Grüne ist auch sonst überaus gentlemanlike und widerlegt diverse Politiker-Klischees komplett: Er kann zuhören, antwortet auf Fragen nicht mit minutenlangen Blabla-Kaskaden, kann Fehler eingestehen und drischt nicht reflexhaft auf jegliche Vorschläge des politischen Gegners ein. Anders als das Gros der grünen Landtagsabgeordneten, die es ablehnen, AfD-Leute zu grüßen, erklärt Mistol diplomatisch; er persönlich „pflege mitteleuropäische Umgangsformen“. Was keineswegs bedeutet, dass er AfD-Inhalte in irgendeiner Weise relativieren würde.
Mistol gehört dem Landtag seit 2013 an, den Grünen trat er im Jahr 1991 bei. Eine andere Partei sei für ihn nie infrage gekommen, betont er und zählt auf, was ihn immer schon an der Ökopartei faszinierte: Sie sei „ökologisch, sozial, basisdemokratisch und gewaltfrei“. Wobei sich darüber streiten lässt, ob „sozial“ tatsächlich zu den zentralen grünen Charakteristika zählt. Nicht nur die SPD spricht der Ökopartei ein sozialpolitisches Profil ab und lästert über die „Partei der Besserverdienenden“.
Ein Vorhalt, den Mistol nicht gelten lässt: Es sei richtig, dass Bio-Lebensmittel teurer sind, räumt er ein, meint aber, dass das im Etat drin sein könne, wenn man anderswo spare. Seine Domäne ist ohnehin die Wohnungspolitik. Seit Oktober 2018 ist er Mitglied im neu gegründeten Ausschuss für Wohnen, Bauen und Verkehr. Und kämpft dort für eine umweltverträgliche und zugleich soziale Wohnungspolitik. Also dafür, weniger Baugebiete auszuweisen, dafür aber dichter und höher zu bauen und deutlich mehr Sozialwohnungen zu schaffen.
Als parlamentarischer Geschäftsführer ist er Chef-Organisator des politischen Alltagsgeschäfts
Neben seiner Mitarbeit im Bauausschuss des Landtags fungiert Mistol als Fraktionsvize und als parlamentarischer Geschäftsführer. Das heißt, er ist Chef-Organisator des politischen Alltagsgeschäfts, zuständig für Personalangelegenheiten, für den Ablauf von Parlamentsdebatten, dafür, dass grüne Abgeordnete wissen, was wann wo diskutiert wird und wie die Linie der Fraktion zu Initiativen der Regierung aussieht. Auch muss er dafür sorgen, dass bei Abstimmungen im Plenum möglichst alle Kollegen vor Ort sind. Als parlamentarischer Geschäftsführer ist Mistol ziemlich gefordert, Zeit ist ein kostbares Gut geworden.
Früher ging er schon mal zu Fuß vom Landtag zum Münchner Hauptbahnhof – einfach, weil es ihn entspannt hat und er gern an der frischen Luft ist. Inzwischen verkneift er sich den 30-minütigen Spaziergang und nimmt zeitsparend die U-Bahn. Stress will er das trotzdem nicht nennen. „Stress ist etwas Selbstgemachtes“, sagt er. Und spricht davon, welch Privileg die Abgeordnetentätigkeit doch sei.
Tatsächlich war ihm der Weg ins Parlament nicht vorgezeichnet. Er komme aus einer „bildungsfernen Familie“, sagt Mistol, sein Vater war Eisenbahner. Vielleicht sei er deshalb so ein Pünktlichkeits-Freak, flachst Mistol. Jedenfalls war es für die Familie nicht selbstverständlich, dass er aufs Gymnasium geht, er musste sich das erkämpfen.
Das Theologiestudium war nichts für ihn
Nach dem Abitur begann Jürgen Mistol, Theologie zu studieren. Auch deshalb, weil er in der katholischen Jugendarbeit engagiert und jahrelang Ministrant war, später im Pfarrgemeinderat mitarbeitete. Zwei Semester hielt er durch, bis er merkte, dass katholische Theologie nicht seine Berufung ist. Er haderte zunehmend mit der Kirche, trat später aus und empfand den Philosophieteil an der Uni als „zu theoretisch“. Lediglich die katholische Soziallehre, entsinnt sich Mistol, „hab ich geliebt“. Weil er tiefer einsteigen wollte in das Wissen darum, wie das Zusammenleben von Menschen funktioniert, studierte er später Soziologie.
Zuvor hatte er seinen Zivildienst in der Pflegestation eines Altenheims absolviert und Gefallen daran gefunden. Anschließend absolvierte er eine Ausbildung zum Krankenpfleger und arbeitete zwei Jahre in der Notaufnahme eines Regensburger Krankenhauses. Doch er merkte: „Das will ich nicht bis ans Ende meines Lebens machen.“ Er sah, wie ausgelaugt ältere Kollegen waren, wie viel ihnen abverlangt wurde, dass die ständige Schichtarbeit an ihnen zehrte.
Und so quittierte er den Krankenhausdienst, studierte Soziologie; das Studium finanzierte er sich mit Taxifahren. Bei den Grünen war er da bereits aktiv – und fiel der Regensburger Landtagsabgeordneten Maria Scharfenberg auf. Mistol wurde ihr Büroleiter, das Soziologiestudium beendete er nach dem Vordiplom. Denn beides, Studium und Vollzeitjob, war zeitlich nicht unter einen Hut zu kriegen. Als Scharfenberg beschloss, nicht mehr für den Landtag zu kandidieren, trat Mistol an – mit Erfolg.
Auch im Stillen kann man erfolgreich sein
Im Landtag machte er sich als solider Arbeiter einen Namen, kümmerte sich zunächst vor allem um Innenpolitik. Die große Bühne und marktschreierische Bierzeltauftritte überließ er anderen. Doch auch im Stillen kann man erfolgreich sein.
Als die CSU-Fraktion vor zwei Jahren den Plan fasste, gegen den Willen des damaligen Regierungschefs Horst Seehofer das umstrittene d’Hondt’sche Auszählverfahren nach Wahlen wieder einzuführen, sorgte Mistol für Deeskalation. Statt in das allgemeine Gezeter einzustimmen, schlug er im Innenausschuss vor, eine Expertenanhörung zum Auszählverfahren durchzuführen. Das fanden alle gut.
Die Anhörung selbst ergab dann, dass keiner der sechs Experten das d’Hondt-Verfahren – es benachteiligt kleine Parteien – guthieß. Sie brachten ein drittes Auszählverfahren (Sainte-Laguë/Schepers) ins Gespräch, das allseits Zustimmung fand. „Die CSU konnte ihr Gesicht wahren“, sagt Mistol – und die Grünen mussten nicht die Nachteile eines umstrittenen neuen Zählsystems fürchten.
Für Schlagzeilen sorgt Diplomatie zwar selten, dafür aber oft für Ergebnisse. Um den Preis allerdings, dass meist andere im Rampenlicht stehen und den Ruhm einheimsen. Ein Nebeneffekt, der Jürgen Mistol nicht zu belasten scheint. Diplomatie, sagt er lächelnd, „erleichtert das Leben“.
(Waltraud Taschner)
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