Wenn der ehemalige CSU-Bundestagsabgeordnete Simon Wittmann gewusst hätte, welche Geister er rief, hätte er auf diese Wette wohl verzichtet. Bei der Landratswahl des Landkreises Neustadt an der Waldnaab 2008 prophezeite er der SPD-Konkurrentin Annette Karl, sie würde höchstens 10 Prozent holen. „David gegen Goliath“, titelte die Regionalpresse damals. Zwar konnte Wittmann sein Landratsmandat verteidigen, Karl holte aber aus dem Stand 33 Prozent – „und das als Zugezogene“, betont sie im Gespräch. Die Wette war gewonnen. Das überzeugte auch die Partei und nominierte sie im selben Jahr als Landtagskandidatin.
Seit 14 Jahren sitzt Karl jetzt im Maximilianeum – drei Legislaturperioden immer im Wirtschaftsausschuss. Die Zuständigkeit für Wirtschaftspolitik sei in der Fraktion nicht besonders beliebt – im Gegensatz etwa zur Bildungspolitik, erklärt sie. Da dachte sich die Abgeordnete: „Denen zeig ich mal, wie man vernünftige sozialdemokratische Wirtschaftspolitik macht.“ Die 62-Jährige reizt es, eine prosperierende Wirtschaft mit guten Arbeitsbedingungen und einer guten Umweltverträglichkeit zu verbinden.
Ein weiterer Grund für den Wirtschaftsausschuss: die gute Zusammenarbeit über Parteigrenzen hinweg – insbesondere mit dem ehemaligen Vorsitzenden Erwin Huber (CSU) lief das gut. Sie beschreibt den Ex-Wirtschaftsminister als „hochkompetent mit leichter Selbstironie“. Natürlich habe es die üblichen Nickligkeiten gegeben: Die Regierungsfraktionen lehnen Anträge der Opposition ab, um sie dann leicht verändert selbst einzubringen. „Aber beim Ausbau der Wasserkraft sind wir alle unisono den Kolleginnen und Kollegen in Berlin auf die Nerven gegangen.“
Weniger zufrieden ist Karl mit der Zusammenarbeit in der aktuellen Energiekrise. „Bei so einer existenzbedrohenden Situation reicht es nicht, nur über den Bund zu schimpfen und die unangenehmen Sachen auf die Kommunen abzuschieben“, kritisiert die Abgeordnete. Sie verlangt – Schuldenbremse hin oder her – von der Staatsregierung wie in anderen Bundesländern einen Fonds, um Unternehmen schnell und unbürokratisch zu helfen. „Jeder muss seinen Beitrag leisten.“ Immerhin dieser Forderung ist Ministerpräsident Markus Söder (CSU) diese Woche zum Teil nachgekommen.
Seitdem sich die SPD-Fraktion bei der letzten Landtagswahl zahlenmäßig halbiert hat, ist Karl auch für Digitalisierung und Energie zuständig. Beim im Juli verabschiedeten bayerischen Digitalgesetz zeigt sich für sie, dass es manchmal besser wäre, auf ein Bundesgesetz zu warten. „Wer jetzt von Bayern zum Beispiel nach Hessen zieht, muss sich wieder eine neue digitale Identität besorgen“, erklärt sie. Ähnlich kompliziert sei der bayerische Sonderweg bei der 10H-Regelung. In diesen Punkten sei sie „Preußin und Zentralistin“.
Geboren wurde Karl 1960 in Berlin, zur Schule ging sie wegen des Umzugs der Familie in Nordrhein-Westfalen. Für ihr Mathematikstudium zog es sie 1978 zurück nach Berlin, wo sie ihren Mann kennenlernte – einen Oberpfälzer. Mit ihm, einem Informatiker, ging sie nach Bayern, „wo ich am Anfang niemanden verstanden habe“, sagt sie und lacht. Das hat sich nach 30 Jahren gelegt. Oberpfälzisch kann sie aber immer noch nicht sprechen: „Da bekomm ich einen Knoten in der Zunge.“ Schwieriger als der Dialekt war für sie ohnehin die Integration in eine kleinstädtische Gesellschaft.
Mit der Politik in Berührung kam die vierfache Mutter Karl als langjährige Elternbeiratsvorsitzende. „Ich habe schon immer gerne die Klappe aufgerissen und mich eingemischt“, betont sie. Als es darum ging, eine Schulbushaltestelle an eine gefährliche Stelle zu verlegen, startete sie mit anderen Eltern dagegen ein Bürgerbegehren – mit Erfolg. Daraufhin überredete sie ihr Nachbar, ein SPD-Gemeinderat in Altenstadt an der Waldnaab, in die Kommunalpolitik zu gehen. Durch ihr Organisationstalent arbeitete sie sich schnell hoch: 2002 wurde sie unter anderem Mitglied im SPD-Landesvorstand, 2008 Fraktionsvorsitzende im Kreistag und 2009 Vizelandesvorsitzende.
Ein Leitfaden für ihre politische Arbeit war für die Oberpfälzerin immer der Glaube. Karl, Mitglied im Landeskomitee der Katholiken, findet es traurig, dass es beim Thema Homosexualität trotz des Einsatzes deutscher Bischöfe nicht zu einer Neubewertung durch die katholische Kirche gekommen ist. Ihr Glaube in die Institution Katholische Kirche hat nach den Missbrauchsskandalen gelitten. Was sie bedauert: dass durch das verlorene Vertrauen die kirchliche Arbeit in wichtigen Bereichen wie der Hospizarbeit oder der Unterstützung für junge schwangere Frauen schwieriger geworden ist.
Sticken und Stricken statt neuer Landtagskandidatur
Doch um diese und andere Fragen müssen sich in Zukunft andere kümmern. Für Karl ist mit der Landespolitik bald Schluss. Die 62-Jährige will bei der Landtagswahl 2023 nicht mehr kandidieren und dem Nachwuchs eine Chance geben. „Ich halte mich zwar für unschlagbar gut“, sagt sie und lacht. Aber es sei Zeit, im Maximilianeum Platz für andere Ideen, andere Ansätze und andere Lebenserfahrungen zu machen. Die Entscheidung fiel im Lockdown. Sie merkte, in welcher „Tretmühle“ sie durch die vielen Termine in München und ihrer Heimat in all den Jahren gefangen war.
Leicht fiel Karl die Entscheidung dennoch nicht. „Ich bin gerne für die Bürgerinnen und Bürger da – gerade, wenn sie sich in bürokratischen Fallen verfangen haben.“ Aber die ewige Oppositionsarbeit und die permanenten Provokationen der AfD haben sie zunehmend genervt. Beides werde sie nicht vermissen. Als einen der größten Erfolge in ihrer politischen Karriere nennt sie die Wiedereinführung des Digitalbonus, ein Förderprogramm insbesondere für kleine Unternehmen. Außerdem, dass es ihr häufig gelungen ist, Fördergelder für ihre Heimatregion durchzusetzen. Als größte Niederlage wertet sie das schlechte Abschneiden der SPD bei der letzten Landtagswahl. „Da hatte ich das Gefühl, wir haben den Draht zu den Menschen verloren.“
Wofür Karl die freie Zeit ab September 2023 nutzt, will sie noch nicht verraten. „Es gibt verschiedene ehrenamtliche Projekte, aber das ist noch in der Schwebe.“ Auf jeden Fall bleibt sie Stadträtin in Neustadt. Außerdem will sie mehr Zeit mit den inzwischen fünf Enkelkindern verbringen. Auch Wandern und Handarbeit wie Sticken und Stricken stehen auf dem Programm. Und Lesen. „Das ist eine Familienkrankheit“, erzählt sie. „Ich kann an keinem Buchladen vorbeilaufen, ohne etwas zu kaufen.“ (David Lohmann)
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